August-September 1885 40 [1-70]
40 [65]
Vorrede.
Wer die Begierden einer hohen und wählerischen Seele hat, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten groß sein: heute aber ist sie außerordentlich. In ein lärmendes, pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch “zugreift,” vor Ekel zu Grunde gehn. Einem solchen Menschen müssen schon zur rechten Stunde ein paar Glücksfälle zu Hülfe kommen, welche es irgendwie noch ausglichen, worin er etwa durch eine ungesättigte sehnsüchtige und vereinsamte Jugend zu Schaden gekommen ist: zum Beispiel daß sich für ihn ein strenger Beruf findet, in dessen Dienst er zeitweilig sich selber und seiner Krankheit entfremdet, und ganz und gar nur den Anforderungen einer tapferen Geistigkeit zu leben hat. Oder daß er einem Ph sein Ohr aufmacht, der ihn von allem Zeitgemäßen und Zeitgefälligen zu “dauerhafteren” Zielen, als die Gegenwart ist, zurück- und wegführt, ohne doch durch ein Übermaaß von Verneinung den Sinn der Ehrfurcht selber bei seinem Schüler zu beschädigen: daß er guter Musik und am besten auch guten Musikern selber Freund wird—ein großes Labsal (denn die guten Musiker sind alle Einsiedler und “außer der Zeit”) und ein gutes Gegengift gegen einen allzukriegerischen u zornigen Hang, der, das Lust hat, sich auf die heutigen Menschen und Dinge zu stürzen.
Es geschah spät—ich war schon über die zwanziger Jahre hinaus—, daß ich dahinter kam, was mir eigentlich noch ganz und gar fehle: nämlich die Gerechtigkeit. “Was ist Gerechtigkeit? Und ist sie möglich? Und wenn sie nicht möglich sein sollte, wie wäre da das Leben auszuhalten?”—solchermaaßen fragte ich mich unablässig. Es beängstigte mich tief, überall, wo ich bei mir selber nachgrub, nur Leidenschaften, nur Winkel-Perspektiven, nur die Unbedenklichkeit dessen zu finden, dem schon die Vorbedingungen zur Gerechtigkeit fehlen: aber wo war die Besonnenheit?—nämlich Besonnenheit aus umfänglicher Einsicht. Was ich mir allein zugestand, das war der Muth und eine gewisse Härte, welche die Frucht langer Selbstbeherrschung ist. In der That gehörte schon Muth und Härte dazu, sich so Vieles und noch dazu so spät einzugestehn. Genug, ich fand Gründe und immer bessere Gründe, meinem Lobe wie meinem Tadel zu mißtrauen und über die richterliche Würde, die ich mir angemaaßt hatte, zu lachen: ja ich verbot mir mit Beschämung endlich jedes Recht auf Ja und Nein; zugleich erwachte eine plötzliche und heftige Neugierde nach der unbekannten Welt in mir,—kurz, ich beschloß, in eine harte und lange neue Schule zu gehen und möglichst weit weg von meinem Winkel. Vielleicht, daß mir unterwegs einmal die Gerechtigkeit selber begegnen würde! Also begann für mich eine Zeit der Wanderschaft.
Was begab sich damals eigentlich mit mir? Ich verstand mich nicht, aber der Antrieb war wie ein Befehl. Es scheint, daß unsere ferne einstmalige Bestimmung über uns verfügt; lange Zeit erleben wir nur Räthsel. Die Auswahl der Ereignisse, das Zugreifen und plötzliche Begehren, das Wegstoßen des Angenehmsten, oft des Verehrtesten: dergleichen erschreckt uns, wie als ob aus uns eine Willkür, etwas Launisches, Tolles, Vulkanisches hier und da herausspränge. Aber es ist nur die höhere Vernunft und Vorsicht unserer zukünftigen Aufgabe. Der lange Satz meines Lebens will vielleicht—so fragte ich mich unruhig—rückwärts gelesen werden? Vorwärts, daran ist kein Zweifel, las ich damals nur “Worte ohne Sinn.”
Eine große, immer größere Loslösung, ein willkürliches In-die-Fremde-gehn, eine “Entfremdung,” Erkältung, Ernüchterung—dies allein, nichts weiter war in jenen Jahren mein Verlangen. Ich prüfte Alles, woran sich bis dahin überhaupt mein Herz gehängt hatte, ich drehte die besten und geliebtesten Dinge um und sah mir ihre Kehrseiten an, ich that das Entgegengesetzte mit allem, woran sich bisher die menschliche Kunst der Verleumdung und Verlästerung am feinsten geübt hat. Damals gieng ich um Manches, das mir bis dahin fremd geblieben war, mit einer schonenden, selbst liebevollen Neugierde herum, ich lernte billiger—unsere Zeit und alles “Moderne” empfinden. Es mag im Ganzen wohl ein unheimliches und böses Spiel gewesen sein;—ich war oft krank daran. Jene Loslösung kommt plötzlich wie ein Erdstoß: die junge Seele muß sehen, was sich mit ihr begiebt. Es ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann: dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbst-Bestimmung; und viel krankhafter sind die ersten wunderlichen und wilden Versuche des Geistes, sich mit eigener Faust nunmehr die Welt zurecht zu rücken. Aber mein Entschluß blieb stehen; und, selbst krank, machte ich noch die beste Miene zu meinem “Spiele” und wehrte mich boshaft gegen jeden Schluß, an dem Krankheit oder Einsamkeit oder die Ermüdung der Wanderschaft Antheil haben könnten. “Vorwärts, sprach ich mir zu, morgen wirst du gesund sein, heute genügt es dich gesund zu stellen.” Damals wurde ich über alles “Pessimistische” bei mir Herr; der Wille zur Gesundheit selbst, die Schauspielerei der Gesundheit war mein Heilmittel. Was ich damals als “Gesundheit” empfand und wollte, drücken diese Sätze verständlich und verrätherisch genug aus (p. 37 der ersten Auflage): “eine gefestete milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein braucht und in ihren Äußerungen nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trägt—jene bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben;—und als der wünschenswertheste Zustand jenes freie furchtlose Schweben über Menschen Sitten Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge.”— In der That eine Art Vogel-Freiheit und Vogel-Umblick, etwas von Neugierde und Verachtung zugleich, wie dergleichen ein Jeder kennt, der unbetheiligt ein ungeheures Vielerlei übersieht.— “Ein freier Geist”— kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe; der Mensch ist zum Gegenstück derer geworden, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn; den freien Geist—giengen lauter Dinge an, die ihn nicht mehr “bekümmern.”
Es hilft nichts, ob es gleich eine harte Nuß ist, die hier geknackt werden will:—der höhere Mensch, der Ausnahme-Mensch, muß, wenn anders er
Das persönliche Ergebniß von alledem war damals (Menschliches, Allzumenschliches, p. 31), wie ich es bezeichnete, die logische Welt-Verneinung: nämlich das Urtheil, daß die Welt, die uns überhaupt etwas angeht, falsch sei. “Nicht die Welt als Ding an sich—diese ist leer, sinn-leer und eines homerischen Gelächters würdig!—sondern die Welt als Irrthum ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schooße tragend”: so dekretirte ich damals—. Die “Überwindung der Metaphysik,” “eine Sache der höchsten Anspannung menschlicher Besonnenheit,” p. 23, galt mir als erreicht: und zugleich stellte ich die Forderung für mich, für diese überwundene Metaphysiken, insofern von ihr “die größte Förderung der Menschheit” gekommen sei, einen großen dankbaren Sinn festzuhalten.
Aber im Hintergrunde stand der Wille zu einer viel weiteren Neugierde, ja zu einem ungeheuren Versuche: der Gedanke dämmerte in mir auf, ob sich nicht alle Werthe umkehren ließen, und immer kam die Frage wieder: “was bedeuteten überhaupt alle menschlichen Werthschätzungen? Was verrathen sie von den Bedingungen des Lebens, —deines Lebens, weiterhin des menschlichen Lebens, zuletzt alles Lebens überhaupt? —