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Völlige Verkehrung des Verhältnisses zwischen Dionysisch und Apollinisch. Das Apollinische ist das uns schwer verständliche. Wir müssen das Bild uns interpretiren, zum Mythus. Ursprünglich, d. h. in den Anfängen der Oper, kennt man ebensowenig das Dionysische. Zuerst sind beide Elemente gar nicht vorhanden. Die germanische Begabung, die zuerst in Luther, dann wieder in der deutschen Musik ans Licht kam, hat uns wieder mit dem Dionysischen vertraut gemacht: es ist das bei weitem Übermächtige, auch die Weisheit des Dionysischen ist uns die vertrautere Form. Wir sind ganz unfähig, zum Naiven zu kommen und mit Hülfe des Apollinischen. Wohl aber können wir die Welt uns rein dionysisch auslegen und die Erscheinungswelt uns durch Musik deuten. Wir bekommen so wenigstens wieder die künstlerische Weltbetrachtung, den Mythus. Dabei bemerken wir, wie die Oper, als die Form des romanischen unkünstlerischen Menschen, durch die germanische Tendenz unendlich vertieft und zur Kunst emporgehoben wird.
Schiller’s Lied an die Freude bekommt insofern erst seinen tiefen, wahrhaft künstlerischen Hintergrund. Wir sehen, wie der Dichter sich seine germanisch tiefe dionysische Regung in Bildern zu deuten versucht: wie er aber, als moderner Mensch, nur schwerfällig zu stammeln weiß. Wenn jetzt Beethoven uns den eigentlich Schillerschen Untergrund darstellt, so haben wir das unendlich-Höhere und Vollkommene.
Ähnlich ist das Verhältniß zwischen Wagners Text und Musik.— Daß der Text noch bestimmend wirkt auf die Musik, ist nur eine Nachwirkung der Operntendenz: das eigentlich Germanische ist der Parallelismus von Musik und Drama, ja ich wage zu behaupten, daß Musik und Mimus uns noch einmal wahrhaft befriedigen werden. Der Sänger der Bühne bringt eine schwierige Complikation hervor. In der Theorie scheint Wagner völlig darauf hinauszukommen. Er legt allen Werth auf das An-sich-verständliche der Handlung, des Mimus. Der unverständliche Text ist eine große Schwierigkeit: die Forderung eines dramatischen Sängers an sich eine Unnatur: ich verlege den Sänger in’s Orchester und reinige damit die Skene.
Wagner hat unglaubliche Mühe mit dem Sänger gehabt: um ihm eine natürliche Position zu geben, ist er auf die Sprachmelodie und auf den Urvers zurückgegangen. Hier hat er die Operntendenz mit titanischer Kraft zu verrücken gesucht, ja fast die Musik umgeworfen: von diesem entsetzlichen Punkte aus. Das Drama, das das Wort braucht: das Orchester als Nachahmung der menschlichen Stimme. Ich denke, wir müssen den Sänger überhaupt streichen. Denn der dramatische Sänger ist ein Unding. Oder wir müssen ihn in’s Orchester nehmen. Aber er darf die Musik nicht mehr alteriren, sondern muß als Chor wirken d. h. als voller Menschenstimmenklang mit dem Orchester zusammen. Die Restitution des Chors: daneben die Bildwelt, der Mimus. Die Alten haben das rechte Verhältniß: nur durch eine übermäßige Bevorzugung des Apollinischen ist die Tragödie zu Grunde gegangen: wir müssen auf die voraeschyleische Stufe zurückgehen.
Aber die mangelhafte Befähigung zum Mimus! Der Mimus ist fast nur erträglich bis jetzt dadurch, daß der Sänger Mimus ist d. h. dadurch, daß wir auf ihn hören und ihn verstehn wollen.
Die Unnatürlichkeit, daß der Sänger im Orchester singt, und der Mimus auf der Bühne vor sich geht, ist der Kunst durchaus nicht zuwider. Der widerwärtige Anblick des Sängers! Aber auch so entgehn wir nicht der dramatischen Musik! Der Sänger muß weg! Das beste Mittel ist doch der Chor!