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Nur vom Standpunkt des Chors aus erklärt sich die Skene und deren Aktion. Nur insofern der Chor nur die Repräsentation der schwärmenden dionysischen Masse ist, nur insofern jeder Zuschauer mit dem Chore sich identificirt, giebt es eine Zuschauerwelt in dem griechischen Theater. Das Schlegel’sche Wort vom “idealischen Zuschauer” muß sich uns hier in einem tiefern Sinne erschließen. Der Chor ist der idealisirte Zuschauer, in sofern er der alleinige Schauer ist, der Schauer der Visionswelt der Skene. Er ist der eigentliche Erzeuger jener Welt: nichts ist irrthümlicher als unsren Maßstab vom aesthetisirend-kritischen Publikum an das griechische Theater anzulegen. Die dionysische Volksmasse als der ewige Geburtsschooß der dionysischen Erscheinung,—und hier das ewig Unfruchtbare; das ist der Gegensatz. Schiller hat völlig Recht, wenn er den Chor als den wichtigsten poetischen Faktor der Tragödie behandelt: und Aristoteles mit seiner euripideisch-flachen Verwendung des Chors darf uns nicht irre machen.
In einem entgegengesetzten Sinne ist der moderne Zuschauer der Erzeuger der Oper: der kunstohnmächtige Mensch erzwingt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch daß er der unkünstlerische Mensch ist. Weil er dies fühlt, zaubert er vor sich hin seine Vorstellung vom künstlerischen Menschen, weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Dekorationskünstler in seinen Dienst, weil er die dionysische Tiefe der Musik nicht begreift, erniedrigt er sich den Musikgenuß zur Wollust der Gesangskünste und zur verstandesmäßigen Rhetorik der Leidenschaft. Das Recitativ und die Arie ist seine Schöpfung. Man suche diese Consequenzen nicht abzuschwächen: auch in der höchsten Leistung der Oper bleibt der moderne Mensch auf diesem Standpunkt des Fordernden und Producirenden. Unsre höchsten Künstler vermögen nichts als diese Urthatsache der modernen Kunst in eine neue Form zu zwingen: und bei Wagner wird eine Art von Metaphysik aus dieser unendlichen Erhöhung jener Thatsache.
Die Oper ist in diesem Sinne die einzige volle Form des modernen Menschen: was Wunder, daß er alle seine Schwächen und Tugenden auf sie entladen hat! Sie ist die einzige, ihn wahrhaft ergreifende Form. Alles, was er sich von künstlerischer Bildung aneignet, überträgt er wieder auf die Oper und macht sie zu einem aufsaugenden Organ seiner künstlerischen Erfahrungen.
Bei Wagner wird die Oper geradezu eine Versinnlichung der künstlerischen Welt, gegenüber der realen, unkünstlerischen.