1871 9 [1-151]
9 [42]
Wem nun die ganze, bisher in dieser Abhandlung dargelegte Kunstlehre in Fleisch und Blut übergegangen ist: wozu vor allem gehört, daß ihre Grundlage, die Thatsache des Dionysischen und Apollinischen, bereits in ihm, in der Form unbewußter Anschauungen, vorhanden war—wer über die ewige Gültigkeit jener beiden Kunsttriebe und ihre nothwendigen Verhältnisse mit uns instinktiv d. h. durch die weiseste Lehrerin Natur belehrt und überzeugt worden ist, der darf sich jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüberstellen, als ein Beschaulicher, der nichts für sich, aber für die ganze Welt die Wahrheit will. Er hat seinen Blick bereits an einer Reihe historischer Vergangenheiten erprobt und gekräftigt und muß nun verlangen, auch angesichts der Wirklichkeit zu Worte kommen zu dürfen. Die Geschichte nämlich belehrt nie direkt, sie beweist nur durch Beispiele: und auch die um uns vorhandene Wirklichkeit kann uns zu keiner tieferen Erkenntniß verhelfen, sondern letztere nur bestätigen und exemplificiren. Gerade unserer Zeit, mit ihrer sich “objektiv,” ja voraussetzungslos gebärdenden Geschichtsschreibung, möchte ich zurufen, daß diese “Objektivität” nur erträumt ist, daß vielmehr auch jene Geschichtsschreibung—soweit sie nicht trockene Urkundensammlung ist—nichts als eine Beispielsammlung für allgemeine philosophische Sätze zu bedeuten hat, von deren, Werth es abhängt, ob die Beispielsammlung dauernde oder höchst zeitweilige Geltung verdient. Sollte das Letztere sich ergeben, so lag es gewiß an der modischen Flachheit und gewähnten “Selbstverständlichkeit” der philosophischen Anschauungen, mit denen so ein “objektiver” Historiker Menschen und Geschicke sich zu illustriren genöthigt ist. Nur der ernste und selbstgenugsame, allen eiteln Begehrungen enthobene Denker sieht etwas in der Geschichte, was der Rede werth ist: nur für die begierdelosen Augen des Philosophen spiegelt die Geschichte ewige Gesetze wieder, während der mitten im Strome des egoistischen Willens stehende Mensch, wenn er Gründe hat die Maske der Objektivität vorzunehmen, sich bescheiden muß, die Nomenklatur der Ereignisse, und gleichsam ihre äußerste Rinde mit beleidigender Gründlichkeit zu benagen: wohingegen er sofort mit jedem erweiterten Urtheile, das er macht, seinen philosophisch rohen, tieferer Selbstbetrachtung unzugänglichen und deshalb gleichgültigen Allerweltsverstand bloßstellt. Von dieser historischen “Methode” und ihren Verfechtern gänzlich absehend, stellen wir uns mit unsern aesthetischen Erkenntnissen mitten in die aesthetische Gegenwart, um uns diese an jenen zu erklären: wozu es alsbald nöthig ist, einige Erscheinungen dieser Gegenwart herauszuheben und als erklärenswerth zu erweisen.
Denken wir einmal an das Schicksal der bekanntesten Shakespeareschen Dramen in unsern Theatern. Ich habe immer bei den besser Gebildeten unter den Zuschauern, diesen Dramen gegenüber, eine eigne Perplexität wahrgenommen. Diese alle waren sich bewußt, aus ihrem vertraulichen tiefen Umgange mit dem Dichter ein innerlich erwärmendes Einverständniß mit jedem Wort und jedem Bilde dieser Dramen sich erworben zu haben, so daß ihnen das immer erneute Lesen derselben wie ein Wandeln unter den Geistergestalten geliebter Todten, als ein fortgesetzter Austausch sicherster und tiefster Erinnerungen gelten durfte. Und doch fühlten sie, daß dieser Verkehr, mit dem “Buch” in der Hand, nur ein künstlich, ja unnatürlich vermittelter Verkehr mit Schatten sei, der vor der dramatischen Wirklichkeit der Bühne beschämt erbleichen müsse. Dies Gefühl—wunderbarer Weise—betrog sich mit dieser Hoffnung: vielmehr entstand, Angesichts der Bühne mit Shakespeareschen Gestalten, jene Perplexität, über die ein aufregender Schauspieler vielleicht auf Momente zu täuschen vermochte, die aber in der Erinnerung als Widerwille gegen die bühnengemäße Verwirklichung Shakespeare’s haften blieb. Man fühlt etwas wie eine Entweihung und bemüht sich, diesen Eindruck aus den Mängeln der Darstellung, dem Nichtverständniß Shakespeare’s von Seiten der Schauspieler usw. abzuleiten. Es gelingt nicht: denn noch im Munde des innerlich überzeugendsten Schauspielers klingt uns ein tiefsinniger Gedanke, ein Gleichniß, ja im Grunde jedes Wort wie abgeschwächt, verkümmert, entheiligt; wir glauben nicht an diese Sprache, wir glauben nicht an diese Menschen und was uns sonst als tiefste Weltoffenbarung berührte, ist uns jetzt ein widerwilliges Maskenspiel. Und so kehren wir wieder zum Buche zurück und gestehen uns, daß uns die unnatürliche Vermittelung des gedruckten Wortes natürlicher dünkt als die Vermittelung des gesprochenen Wortes in der sinnlich erscheinenden Handlung. Versuchen wir aber nun selbst einmal, das was wir in schweigsamer Ergriffenheit gelesen haben, uns laut mit mimischer Differenzirung der Stimme vorzulesen, so werden wir wiederum darüber perplex, daß uns die eigne Vortragsweise im Gegensatz zu jener Ergriffenheit gänzlich unadäquat, ja unwürdig erscheint, so daß wir uns jetzt in ein allgemeines pathetisch monotones Recitiren flüchten, wodurch wir wenigstens unserer Erhebung genug gethan zu haben fühlen. Dieser pathetisch monotone Klang der Stimme ist es nun, aus dem die gesammte Redeweise der Schillerschen Gestalten, ja eine große Anzahl dieser Gestalten selbst geboren ist: womit uns die Bürgschaft gegeben ist, daß unsre einmal nicht zu unterdrückende aesthetische Empfindung von allen Vortragsweisen das monotone Pathos am höchsten schätzt und als den normalen Ausdruck der recitirten Poesie betrachtet. Was ist nun dieses in der Natur gar nicht vorgebildete und recht eigentlich unnatürliche Pathos? Es ist der Ausdruck eines moralischen Zustandes: der Gegensatz der aesthetischen Welt zu unsrer eignen Wirklichkeit kommt uns zu allernächst und am stärksten als moralische Empfindung zu Gemüthe, als Empfindung der aesthetischen Unnatur unsrer Welt im Vergleich mit der Natur der künstlerischen Welt, ja als Empfindung unseres unaesthetischen durchaus moralischen Wesens. Das aesthetische Genießen äußert sich in uns zuerst als moralische Erhebung: womit gesagt ist, daß wir nur erst von unserer moralischen Erhebung aus die Kunst verstehen, so daß die moralische Forderung bei uns über die Form des Kunstgenusses entscheidet und z. B. uns vom Besuch der Shakespeareschen Aufführungen abhält, weil wir für uns selbst jenen moralischen Urgenuß uns viel reiner und stärker erzeugen können.
Damit ist für unsere gegenwärtige Kunst der merkwürdige Satz ausgesprochen, daß das Kunstpublikum vor allem ein moralisches Wesen ist und daß die Künstler bereit sein müssen, vor ein Forum sich ziehen zu lassen, das im Grunde nichts mit der Kunst zu thun hat. Dieses Publikum kann dabei ein recht unmoralisches Wesen sein, gerade weil es gar nicht im Stande ist, etwas Künstlerisches anders als mit ihren Willens-, Strebens- und Pflichtregungen zu erfassen. Ja man kann schon a priori behaupten, daß die wirklich gefeierten Künstler ihre Verehrung von jenen Fundamenten aus sich erwerben und selbst gerade als moralische Wesen und ihre Kunstwerke als moralische Weltspiegelungen genossen werden.
Der deutlichste Ausdruck für diese Thatsache ist die Stellung der Gegenwart zu Richard Wagner. Die Begeisterung, die seine musikalischen Dramen finden, erklärt sich aus denselben moralischen Erregungen: und sie begeistern gerade aus den Gründen, aus denen der dargestellte Shakespeare mißfällt. Jene Aufführungen erregen nämlich das moralische Pathos unendlich stärker als die bloß vorgestellten aus Klavierauszügen imaginirten Dramen. So erweisen sie sich als die vollkommenste Übereinstimmung des Publikums mit dem Kunstwerk in der Gegenwart: welchen Gründen nun nachzuspüren ist.— Die Gegner dieser Wirkungen, soweit sie nicht lügen, stehen eben außerhalb jener Instinkte, um deren Erklärung es sich handelt. —