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[...] Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Dokumenten, mit den Forderungen des Zuhörers, das Wort zu verstehen. Als in dem letzten Drittel des 16ten Jahrhunderts jene Bewegung in Italien begann, aus der die Oper entstanden ist, war man in der guten Gesellschaft in Florenz, besonders im Hause des Grafen Bardi da Vernio, am Schlusse regelmäßiger und lebendiger Erörterung über eine mögliche Wiedergeburt der Tonkunst darüber einig geworden, daß “die neuere Musik im Ausdruck der Worte sehr mangelhaft sei und daß um diesem Mangel abzuhelfen irgend eine Art von Kantilene oder Gesangsweise versucht werden müsse, bei welcher die Textworte nicht unverständlich gemacht noch der Vers zerstört werde.” Der Graf Bardi sagt z. B. in einem Brief an Caccini, um wie viel die Seele edler sei als der Körper, um so viel seien auch die Worte edler als der Contrapunkt. [Vgl. Ernst Otto Lindner, Zur Tonkunst. Abhandlungen. Berlin: Guttentag, 1864:3-4.] “Würde es nicht lächerlich erscheinen, wenn Ihr auf öffentlichem Platze den Diener in Begleitung seines Herrn und diesem Befehle geben sähet, oder ein Kind, welches seinen Vater oder Lehrer ermahnen wollte?” (Doni, Tom. II, p. 233f.) [Vgl. Ernst Otto Lindner, Zur Tonkunst. Abhandlungen. Berlin: Guttentag, 1864:4.] In der gleichen laienhaft unmusikalischen Voraussetzung wurde das Problem einer Verbindung von Musik und Dichtung im Hause des Jacopo Corsi behandelt, in dem es nun auch, durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu Experimenten im Sinne jener Voraussetzung kommt. In der selbstgefälligen Litteratur dieser Anfänge der Oper wird fortwährend wiederholt, daß durch den Gesang die Rede nachgeahmt werden solle: denn dies ist die nächste Consequenz jener Forderung, daß man den Sänger genau verstehen müsse. [Vgl. Ernst Otto Lindner, Zur Tonkunst. Abhandlungen. Berlin: Guttentag, 1864:15.] Man höre das Lob eines dieser ersten Experimentatoren, des Sängers Jacopo Peri (in dem Vorworte eines Berichtes über die Aufführung der Dafne Rinuccinis zu Mantua 1608): “Ich werde nicht müde werden, jene kunstvolle Art singend zu recitiren, zu preisen.” (Zur Tonkunst, E. O. Lindner, p. 24.) [Vgl. Ernst Otto Lindner, Zur Tonkunst. Abhandlungen. Berlin: Guttentag, 1864:24.] Um auch eine Vorstellung von den Dekorationskünsten dieser ersten Opern zu geben, wähle ich noch eine Stelle des Nic. Erythraeus (p. 21 ebendort): “— — — [Vgl. Ernst Otto Lindner, Zur Tonkunst. Abhandlungen. Berlin: Guttentag, 1864:21.]
Ist es glaublich, daß diese gänzlich veräußerlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst gleichsam als die Wiedergeburt aller wahren Musik empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar heilige und im Grunde einzig klassische Musik Josquins und Palestrinas erhoben hatte? Und wer möchte andernseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentin[er] Kreise und die Eitelkeit der dramatischen Sänger für die ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen? Daß in derselben Zeit, ja in demselben Wollen neben dem Gewölbebau palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halb musikalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur an dem sofort darzulegenden Wesen des Recitativs zu erklären.