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Vor dem Hauptthore von Katania liegt ein Landhaus, im Besitz von zwei Frauen, der greisen und edelen Corinna und ihrer Tochter Lesbia. Es graut soeben der Morgen eines Frühlingstages: da hört man das Thor des Landhauses sich öffnen und eine gedämpfte Stimme den Namen “Leonidas” rufen. Sofort kommt um die Mauer herum ein greiser Sklave, während das Thor völlig aufgemacht wird und aus ihm Charmides tritt. Ch[armides]. Wo weilst du? Ich komme dich in der Nachtwache abzulösen. Deine Stunde ist schon vorüber. L[eonidas]. Wenn du noch müde bist, so schlaf weiter. Ich kann nicht mehr schlafen. Eine seltsame Nacht. Ich war eben auf dem kleinen Hügel am Hause und sah nach dem Aetna hin. Dort gab es schreckliche Feuerzeichen, und zugleich zog eine qualmige fette Frühlingsluft durch die Nacht, der Wind schlich als ob er sich fürchte und unter seiner Last zittere. Hier am Hause war’s als ob der Wind die Bürde abwürfe und mit Stöhnen entflöhe. Ch[armides]. Nun Leonidas, ich bin jünger als du und kein Geisterseher. Mich läßt’s auch nicht schlafen, und im Grunde, glaub’ ich, schläft niemand im ganzen Hause. Aber uns andere—Gott verzeih mir dies “uns”—quält schon der Tag und die Sehnsucht nach seinen Freuden, die schöner sind als der bunteste Traum: und du weißt, was auch wir Sklaven heute von unsern milden Gebieterinnen zu erwarten haben. Ich zweifle nicht, daß sie uns heute freilassen werden; und wir dürfen wie jeder Freigeborne die Tragödie anschauen und das Nachtfest mitfeiern. L[eonidas]. Ach, dieser Freudentag ist für uns Greise nur ein Krampf, mit dem wir unsern Schmerz bezwingen. Ich bin als Knabe mit aus dem göttlichen Corinth übergesiedelt: und mitunter träume ich noch, ich sei jener Knabe und sähe uns zu Schiffe steigen und unter heißesten Thränen die Stadt segnen und unser Loos verwünschen. Du kannst nicht vergleichen: ich sage dir, obwohl ein Sklave, weiß ich doch, daß hier alles barbarisirt—wenn ich unsre Gebieterinnen, ausnehme, die für mich Inbegriff alles Hellenischen sind. Die Anderen tappen umher und lästern ihre Abstammung; ja wir selbst gehen in der Irre, und nur an diesem Tage pflegt unser Sehnen nach dem Verlornen stark genug zu sein, um in ihm wieder einmal Griechen sein zu können. Ch[armides]. Halt! Halt! Was schleicht dort! Es sind ihrer zwei. Und wie ist der Eine vermummt! Hinein in’s Haus.
Pausanias, neben ihm sein Sklave, mit Blumen und Kränzen überdeckt. He da! Sind die beiden Maulwürfe schon wieder ins Loch. Blindes Volk! Mich nicht zu erkennen! Dies ist doch mein Schritt, dies meine Figur. Der Blumenberg hat sie erschreckt. He da! (Pocht leise an’s Thor.)