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Was ist dies für eine Fähigkeit, die zu improvisiren aus einem fremden Charakter heraus? Von einem Nachmachen ist doch nicht die Rede: denn nicht die Überlegung ist der Ursprung solcher Improvisationen. Wirklich ist zu fragen: wie ist eine Einkehr in fremde Individualität möglich?
Dies ist zunächst Befreiung von der eignen Individualität, also sich-Versenken in eine Vorstellung. Hier sehen wir, wie die Vorstellung im Stande ist, die Willensäußerungen zu differenziren: wie aller Charakter eine innerliche Vorstellung ist. Diese innerliche Vorstellung ist offenbar nicht identisch mit unserm bewußten Denken über uns.
Diese Einkehr in fremde Individualität ist nun Kunstgenuß ebenfalls d. h. die Willensäußerungen werden durch eine immer sich vertiefende Vorstellung endlich andere, d. h. differenzierte, und schließlich zum Schweigen gebracht.
Die Verstellung, im Dienste des Egoismus, zeigt ja auch die Macht der Vorstellung, die Willensäußerungen zu differenziren.
Der Charakter scheint also eine über unser Triebleben ausgegossene Vorstellung zu sein, unter der alle Äußerungen jenes Trieblebens an’s Licht treten. Diese Vorstellung ist der Schein und jenes die Wahrheit: jenes das Ewige, der Schein das Vergängliche. Der Wille das Allgemeine, die Vorstellung das Differenzirende. Der Charakter ist eine typische Vorstellung des Ureinen, die wir dagegen nur als Vielheit von Äußerungen kennen lernen.
Jene Urvorstellung, die den Charakter ausmacht, ist nun auch die Mutter aller moralischen Phänomene. Und jede zeitweilige Aufhebung des Charakters (im Kunstgenuß, in der Improvisation) ist eine Veränderung des moralischen Charakters. Es ist die mit der Vorstellung, dem Scheine verknüpfte Welt des Besten, aus der das moralische Phänomen entsteht. Die Scheinwelt der Vorstellung geht ja auf Welterlösung und Weltvollendung hinaus. Diese Weltvollendung würde liegen in der Vernichtung des Urschmerzes und Urwiderspruchs d. h. der Vernichtung des Wesens der Dinge und in dem alleinigen Scheine—also im Nichtsein.
Alles Gute entsteht aus zeitweiligem Versenktsein in die Vorstellung d. h. aus dem Einswerden mit dem Scheine.