Frühjahr-Sommer 1883 7 [1-100]
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Das Logische, die Zeit, der Raum müßten von uns produzirt sein: Unsinn! Wenn der Geist ihren Gesetzen sich fügt, so ist es, weil sie thatsächlich wahr sind, wahr an sich! Daß wir an diese Wahrheit glauben, absolut, das ist die Folge davon, daß die Abnormen aussterben: der Fehler an diesen Wahrheiten rächt sich.
Wie müßte das Gleichartige in der Moral aussehen, wenn die Schwächeren, Beherrschten und Gedrückten moralisiren?
Wenn die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, ihrer-selber-Ungewissen, Müden moralisiren: was wird das Gleichartige ihrer moralischen Unterscheidungen sein? Wahrscheinlich wird ein Argwohn zum Ausdruck kommen; vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage.
Ein abgünstiger Blick für die Tugenden der Mächtigeren: feine Skepsis und Mißtrauen gegen alles “Gute” wird dort geehrt und Verkleinerung des Glücks der Mächtigen und des Lebens.
Hervorkehrung der Eigenschaften, vermöge deren sich Leidende das Leben erleichtern: Ruhm des Mitleidens, aber aus anderen Gründen, als wenn die Mächtigen es rühmen (die Nützlichkeit ist der Grund)
Ruhm der Demuth und Verfeinerung dieses Gesichtspunktes in allgemeiner Unterwerfung unter die Gesetze des Daseins: Vorliebe für “Unfreiheit des Willens”—der Mensch durch und durch abhängig.
Eine Art Rache liegt in der Hervorkehrung der entgegengesetzten Tugenden: so wird gelobt Abstinenz, willkürliche Peinigung, Einsamkeit, geistige Armut: und mit der Zukunft verbindet man die Apathie.
Diese ganze Moral-Wendung ist in Europa jüdisch.
Gesetzt, eine solche Gesinnung kommt allmählich zur Herrschaft und Menschen mit ihr werden die Herrschenden: so ist die Folge eine ungeheure moralische Verlogenheit (oder Schamlosigkeit).
(das Plebejische in den griechischen Moralisten Socrates)
Dies geschah im europäischen Priesterthum. Im englischen Utilitarism, in Kant, Schopenhauer.
(Werth der Franzosen: ihr Takt hinsichtlich der Scham)
Nun ist eine zweite Wendung möglich: die der Schamlosigkeit: die allgemeine Lust an der Bestie Mensch, an der Thatsache der Illusionen
Unter den Beherrschten wird das Böse “schlecht.”
Vorstellung einer großen Rache (Tertullian)