Frühjahr-Sommer 1883 7 [1-100]
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Jetzt erst dämmert es den Menschen auf, daß die Musik eine Zeichensprache der Affekte ist: und später wird man lernen, das Trieb-system eines Musikers aus seiner Musik deutlich zu erkennen. Er meinte wahrlich nicht, daß er sich damit verrathen habe. Das ist die Unschuld dieser Selbstbekenntnisse, im Gegensatz zu allen geschriebenen Werken.
Aber es giebt auch bei den großen Philosophen diese Unschuld: sie sind sich nicht bewußt, daß sie von sich reden—sie meinen, es handle sich “um die Wahrheit”—aber es handelt sich im Grunde um sie. Oder vielmehr: der in ihnen gewaltigste Trieb bringt sich an’s Licht, mit der größten Schamlosigkeit und Unschuld eines Grundtriebes—er will Herr sein und womöglich der Zweck aller Dinge, alles Geschehens! Der Philosoph ist nur eine Art Gelegenheit und Ermöglichung dafür, daß der Trieb einmal zum Reden kommt.
Es giebt viel mehr Sprachen als man denkt: und der Mensch verräth sich viel öfter als er wünscht. Was redet nicht!—aber es giebt der Hörenden immer noch Wenige, so daß der Mensch seine Bekenntnisse gleichsam in den leeren Raum hinein plaudert: er ist ein Vergeuder mit seinen “Wahrheiten,” wie die Sonne es mit ihrem Lichte ist.— Ist es nicht Schade, daß der leere Raum keine Ohren hat?
Es giebt Ansichten, da empfindet der Mensch: “das ist allein wahr und richtig und wahrhaft menschlich; wer anders denkt, irrt”—das nennt man religiöse und sittliche Ansichten. Es ist klar, daß hier der souveräne Trieb redet, der stärker ist als der Mensch. Jedesmal glaubt hier der Trieb, die Wahrheit und den höchsten Begriff “Mensch” zu haben.
Es giebt wohl viele M[enschen], in denen ein Trieb nicht souverän geworden ist: in denen giebt es keine Überzeugungen. Dies ist also das erste Characteristicum: Jedes geschlossene System eines Philosophen beweist, daß in ihm Ein Trieb Regent ist, daß eine feste Rangordnung besteht. Das heißt sich dann: “Wahrheit.”— Die Empfindung ist dabei: mit dieser Wahrheit bin ich auf der Höhe “Mensch”: der Andere ist niedrigerer Art als ich, mindestens als Erkennender.
Bei rohen und naiven Menschen herrscht die Überzeugung auch in Betreff ihrer Sitten, ja ihrer Geschmäcker: es ist der bestmögliche. Bei Culturvölkern herrscht eine Toleranz hierin: aber um so strenger hält man fest an seinem höchsten Maßstab für Gut und Böse: darin will man nicht nur den feinsten Geschmack haben, sondern den allein berechtigten.
Dies ist die allgemein herrschende Form der Barbarei, daß man noch nicht weiß, Moral ist Geschmacks-Sache.
Im Übrigen wird in diesem Bereiche am meisten gelogen und geschwindelt: die moralistische Litteratur und die religiöse ist die verlogenste. Der herrschende Trieb, er mag sein welcher er wolle, handhabt List und Lüge gegen die anderen Triebe, um sich oben zu erhalten.
Neben den Religionskriegen her geht fortwährend der Moral-Krieg: d.h. Ein Trieb will die Menschheit sich unterwerfen; und je mehr die Religionen aussterben, um so blutiger und sichtbarer wird dies Ringen werden. Wir sind im Anfange!