Frühjahr-Sommer 1883 7 [1-100]
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Daß überhaupt moralisirt wird, ist vielleicht noch nie als Problem gefaßt worden. Ist es nothwendig, daß die Menschen immer moralisiren werden? Oder könnte nicht Moral aussterben, wie das astrologische und das alchemistische Nachdenken ausgestorben sind oder aussterben? Nothwendig wofür? Für das Leben? Aber daß man ohne moralisches Urtheilen leben könne, beweisen die Pflanzen und die Thiere. Oder für das Glücklich-leben? Die ebengenannten Thiere beweisen, daß man jedenfalls glücklicher leben könne als Mensch—auch ohne Moral. Also kann die Moral weder nothwendig sein für das Leben überhaupt, noch für das Glücklicher-werden: um nicht schon so weit zu gehen, die Moral verantwortlich zu machen dafür, daß der Mensch mehr leidet als das Thier:—das Mehr-leiden könnte ja andere Gründe haben und die Moral vielleicht ein Mittel sein, das sehr-viel-mehr-Leiden zu verhüten. Aber sicher ist, daß wenn Glücklicher- und Leidloser-werden das Ziel wäre, das wir uns zu stecken hätten: die langsame Verthierung rationell wäre: wozu jedenfalls auch das Ablassen von den moralischen Urtheilen gehörte. Wenn der Mensch also nicht nur leben und nicht glücklicher leben will: was will er denn? Nun sagt die Moral: so und so soll gehandelt werden—warum “soll”? Also die Moral muß es wissen: dies Warum, dies Ziel, welches weder Leben überhaupt noch Glücklicher-werden ist.— Aber sie weiß es nicht! sie widerspricht sich! Sie befiehlt, aber sie vermag sich nicht zu rechtfertigen.— Das Befehlen ist das Wesentliche daran!
Also wozu Moral? Weg mit allem “du sollst”!