Frühjahr-Sommer 1883 7 [1-100]
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Wie kann der Staat Rache übernehmen! Erstens ist er kalt und handelt nicht im Affekt: was der Rache-Übende thut. Dann ist er keine Person, am wenigsten eine noble Person: kann also auch nicht im Maßhalten (im “Gleiches mit Gleichem”) seine noblesse und Selbstzucht beweisen. Drittens nimmt er gerade das weg an der Rache, was zur Wiederherstellung der verletzten Ehre dient: das freiwillige Preisgeben des Lebens, die Gefährlichkeit um der Ehre willen. Er würde also nur dem unnobel denkenden Verletzten eine Genugthuung bieten, dem Nobleren im Gegentheil die Wiederherstellung seiner Ehre rauben.— Endlich: er setzt Schamlosigkeit des Verletzten voraus: der von seiner Verletzung öffentlich reden muß! Die “Klage” ist ja eine Forderung, die der Staat macht! Aber der edle Mensch leidet schweigend.— Also nur die gemeinen Naturen können im Staate das Werkzeug der Vergeltung sehen. Daher der erbitterte Kampf für die Blutrache gegen den Staat.— Pasquale Paoli mußte deshalb die Hingebung an das Ganze als das Noblere—als ein Opfer!—hinstellen und das Verzichtleisten auf die Blutrache fordern, als eine höhere Selbstüberwindung: deshalb setzte er Beschimpfung auf den, der sich rächt.
Der Staat gewährt Schutz dem Schwächeren, der sich selber gegen den Übelthäter nicht schützen kann: also Strafen sind zuerst Sicherheitsmaßregeln, auch insofern sie abschrecken. Er will nicht, daß man sich selber wehrt—er fürchtet nicht die Rache, sondern die souveräne Gesinnung!
Also: die Unterordnung unter die Gerechtigkeit des Staates ist eine Aufopferung, nicht eine Nützlichkeit für edlere Menschen. Somit muß der Staat selber als eine höhere Empfindung gewirkt haben: kurz, älter als die Einordnung unter die Gerechtigkeits-Übung des Staates muß der Glaube an die Heiligkeit (Ehrwürdigkeit) des Staates sein: älter und stärker! In Bezug auf Kinder und Sklaven hält der Vornehme lange seine Hoheit fest: seine Souverainetät also.— Nicht Gesichts-Punkte der Klugheit, sondern Impulse des Heroismus sind in der Entstehung des Staates mächtig gewesen: der Glaube, daß es etwas Höheres giebt als Souverainetät des Einzelnen. Da wirkt die Ehrfurcht vor dem Geschlechte und den Ältesten des Geschlechts: ihm bringt der Jüngere sein Opfer. Die Ehrfurcht vor den Todten und den überlieferten Satzungen der Vorfahren: ihnen bringt der Gegenwärtige sein Opfer.— Da wirkt die Huldigung vor einem geistig Überlegenen und Siegreichen: das Entzücken, seinem Musterbilde leibhaft zu begegnen: da entstehen Gelöbnisse der Treue.— Es ist nicht der Zwang, und nicht die Klugheit, welche die älteren Staatsformen aufrecht erhält: sondern das Fortströmen nobler Regungen. Der Zwang würde gar nicht auszuüben sein, und die Klugheit ist vielleicht noch zu wenig individuell entwickelt.— Eine gemeinsame Gefahr giebt vielleicht den Anlaß zum Zusammenkommen: und das Gefühl der neuen gemeinsamen Macht hat etwas Hinreißendes und ist eine Quelle nobler Entschließungen.