Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Psychologie des Irrthums
Wir haben von Alters her den Werth einer Handlung, eines Charakters, eines Daseins in die Absicht gelegt, in den Zweck, um dessentwillen gethan, gehandelt, gelebt worden ist: diese uralte Idiosynkrasie des Geschmacks nimmt endlich eine gefährliche Wendung,—gesetzt nämlich, daß die Absicht- und Zwecklosigkeit des Geschehens immer mehr in den Vordergrund des Bewußtseins tritt. Damit scheint eine allgemeine Entwerthung sich vorzubereiten: “alles hat keinen Sinn”—diese melancholische Sentenz heißt “aller Sinn liegt in der Absicht und gesetzt daß die Absicht ganz und gar fehlt, so fehlt auch ganz und gar der Sinn.” Man war, jener Schätzung gemäß, genöthigt gewesen, den Werth des Lebens in ein “Leben nach dem Tode” zu verlegen; oder in die fortschreitende Entwicklung der Ideen oder der Menschheit oder des Volkes oder über den Menschen weg; aber damit war man in den Zweck-progressus in infinitum gekommen, man hatte endlich nöthig, sich einen Platz in dem “Welt-Prozeß” auszumachen (mit der dysdämonistischen Perspektive vielleicht, daß es der Prozeß ins Nichts sei).
Dem gegenüber bedarf der “Zweck” einer strengeren Kritik: man muß einsehen, daß eine Handlung niemals verursacht wird durch einen Zweck; daß Zweck und Mittel Auslegungen sind, wobei gewisse Punkte eines Geschehens unterstrichen und herausgewählt werden, auf Unkosten anderer und zwar der meisten; daß jedes Mal, wenn etwas auf einen Zweck hin gethan wird, etwas Grundverschiedenes und Anderes geschieht; daß in Bezug auf jede Zweck-Handlung es so steht, wie mit der angeblichen Zweckmäßigkeit der Hitze, welche die Sonne ausstrahlt: die übergroße Masse ist verschwendet; ein kaum in Rechnung kommender Theil hat “Zweck,” hat “Sinn”—; daß ein “Zweck” mit seinen “Mitteln” eine unbeschreiblich unbestimmte Zeichnung ist, welche als Vorschrift, als “Wille” zwar kommandiren kann, aber ein System von Gehorchenden und Eingeschulten Werkzeugen voraussetzt, welche an Stelle des Unbestimmten lauter feste Größen setzen (d.h. wir imaginiren ein System von zweck- und mittelsetzenden klügeren aber engeren Intellekten, um unserem einzig bekannten “Zwecke” die Rolle der “Ursache einer Handlung” zumessen zu können: wozu wir eigentlich kein Recht haben (es hieße, um ein Problem zu lösen, die Lösung des Problems in eine unserer Beobachtung unzugängliche Welt hineinstellen—) Zuletzt: warum könnte nicht “ein Zweck” eine Begleiterscheinung sein, in der Reihe von Veränderungen wirkender Kräfte, welche die zweckmäßige Handlung hervorrufen—ein in das Bewußtsein vorausgeworfenes blasses Zeichenbild, das uns zur Orientirung dient dessen, was geschieht, als ein Symptom selbst vom Geschehen, nicht als dessen Ursache?— Aber damit haben wir den Willen selbst kritisirt: ist es nicht eine Illusion, das, was im Bewußtsein als Willens-Akt auftaucht, als Ursache zu nehmen? Sind nicht alle Bewußtseins-Erscheinungen nur End-Erscheinungen, letzte Glieder einer Kette, aber scheinbar in ihrem Hintereinander innerhalb Einer Bewußtseins-Fläche sich bedingend? Dies könnte eine Illusion sein. —
Widerspruch gegen die angeblichen “Thatsachen des Bewußtseins.” Die Beobachtung ist tausendfach schwieriger, der Irrthum vielleicht Bedingung der Beobachtung überhaupt.
Ich habe die Absicht, meinen Arm auszustrecken; angenommen, ich weiß so wenig von Physiologie des menschlichen Leibes und von den mechanischen Gesetzen seiner Bewegung als ein Mann aus dem Volke, was giebt es eigentlich Vageres, Blasseres, Ungewisseres als diese Absicht im Vergleich zu dem was darauf geschieht? Und gesetzt, ich sei der scharfsinnigste Mechaniker und speziell über die Formeln unterrichtet, die hierbei angewendet werden, so würde ich um keinen Deut besser oder schlechter meinen Arm ausstrecken. Unser “Wissen” und unser “Thun” in diesem Falle liegen kalt auseinander: als wie in zwei verschiedenen Reichen.— Andrerseits: Napoleon führt den Plan eines Feldzugs durch—was heißt das? Hier ist alles gewußt, was zur Durchführung des Plans gehört, weil Alles befohlen werden muß: aber auch hier sind Untergebene vorausgesetzt, welche das Allgemeine auslegen, anpassen an die Noth des Augenblicks, Maaß der Kraft usw.
Die Welt ist nicht so und so: und die lebenden Wesen sehen sie, wie sie ihnen erscheint. Sondern: die Welt besteht aus solchen lebenden Wesen, und für jedes derselben giebt es einen kleinen Winkel, von dem aus es mißt, gewahr wird, sieht und nicht sieht. Das “Wesen” fehlt: Das “Werdende,” “Phänomenale” ist die einzige Art Sein. | ?
“Es verändert sich,” keine Veränderung ohne Grund—setzt immer schon ein Etwas voraus, das hinter der Veränderung steht und bleibt.
“Ursache” und “Wirkung”: psychologisch nachgerechnet ist es der Glaube, der sich im Verbum ausdrückt, Activum und Passivum, Thun und Leiden. Das heißt: die Trennung des Geschehens in ein Thun und Leiden, die Supposition eines Thuenden ist vorausgegangen. Der Glaube an den Thäter steckt dahinter: wie als ob, wenn alles Thun vom “Thäter” abgerechnet würde, er selbst noch übrig bliebe. Hier soufflirt immer die “Ich-Vorstellung”: Alles Geschehen ist als Thun ausgelegt worden: mit der Mythologie, ein dem “Ich” entsprechendes Wesen — — —