Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Die Wenigsten machen sich klar, was der Standpunkt der Wünschbarkeit, jedes “so sollte es sein, aber es ist nicht” oder gar “so hätte es sollen gewesen sein” in sich schließt: eine Verurtheilung des gesammten Gangs der Dinge. Denn in ihm giebt es nichts Isolirtes: das Kleinste trägt das Ganze, auf deinem kleinen Unrechte steht der ganze Bau der Zukunft, das Ganze wird bei jeder Kritik, die das Kleinste trifft, mit verurtheilt. Gesetzt nun gar, daß die moralische Norm, wie es selbst Kant vermeinte, niemals vollkommen erfüllt worden ist und als eine Art Jenseits über der Wirklichkeit hängen bliebe, ohne jemals in sie hineinzufallen: so schlösse die Moral ein Urtheil über, das Ganze in sich, welches aber doch erlaubte zu fragen: woher nimmt sie das Recht dazu? Wie kommt der Theil dazu, dem Ganzen gegenüber hier den Richter zu machen?— Und wäre es in der That ein unausrottbarer Instinkt, dieses moral[ische] Urtheilen und Ungenügen am Wirklichen, wie man behauptet hat, gehörte dann dieser Instinkt nicht vielleicht mit zu den unausrottbaren Dummheiten, auch Unbescheidenheiten unserer species?— Aber, indem wir dies sagen, thun wir das, was wir tadeln; der Standpunkt der Wünschbarkeit, des unbefugten Richterspielens gehört mit in den Charakter des Gangs der Dinge, jede Ungerechtigkeit und Unvollkommenheit ebenso,—es ist eben unser Begriff von “Vollkommenheit,” welcher seine Rechnung nicht findet. Jeder Trieb, der befriedigt werden will, drückt seine Unzufriedenheit mit der jetzigen Lage der Dinge aus: wie? ist vielleicht das Ganze aus lauter unzufriedenen Theilen zusammengesetzt, die allesammt Wünschbarkeiten im Kopf haben? ist der “Gang der Dinge” vielleicht eben das “Weg von hier! Weg von der Wirklichkeit!,” die ewige Unbefriedigung selbst? ist die Wünschbarkeit vielleicht die treibende Kraft selbst? ist sie—deus?
Es scheint mir wichtig, daß man das All, die Einheit los wird, irgend eine Kraft, ein Unbedingtes; man würde nicht umhin können, es als höchste Instanz zu nehmen und Gott zu taufen. Man mu[ß] das All zersplittern; den Respekt vor dem All verlernen; das, was wir dem Unbekannten [und] Ganzen gegeben haben, zurücknehmen für das Nächste, Unsre. Was Kant z.B. sagt “Zwei Dinge bleiben ewig verehrenswerth”—heute würden wir eher sagen “die Verdauung ist ehrwürdiger.” Das All brächte immer die alten Probleme mit sich “wie Übel möglich sei?” usw. Also: es gie[bt] kein All, es fehlt das große Sensorium oder Inventarium oder Kraft-Magazin: darin [+ + +] [Vgl Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Schluß: "Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir."]