Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Zur Physiologie der Kunst
An die Künstler.
Unterscheidung: solche, die von ihrer Kunst leben wollen und andre, wie Dante, Goethe
Auf welchem Bedürfniß? Rückschluß vom “Werk” auf den Künstler.
Was “der Erfolg” beweist: jedenfalls ein Mißverständniß des Künstlers, zumeist auch des Werks.
Die anspruchsvollen Sinne—was bedeutet das?
Der Mangel an Logik—der esprit, das sujet.
an Probität der Bildung
Der “Naturalismus”—was bedeutet er? Vor allem ein Reizmittel—das Häßliche und Ungeheure macht Emotion.
Die “Romantik”—was bedeutet sie?
Stellung der Nationen zur Entwicklung der “europäischen Seele.”
Verhältniß der Kunst zur Kirche.
Der Pessimismus in der aesthetischen Theorie (“interesseloses Anschauen” “les Parnassiens”).
— Ich bin für diese ganze romant[ische] Musik (Beethoven eingerechnet) nicht glücklich genug, nicht gesund genug. Was ich nöthig habe, ist Musik, bei der man das Leiden vergißt; bei der das animalische Leben sich vergöttlicht fühlt und triumphirt; bei der man tanzen möchte; bei der man vielleicht, cynisch gefragt, gut verdaut? Die Erleichterung des Lebens durch leichte kühne selbstgewisse ausgelassene Rhythmen, die Vergoldung des Lebens durch goldene zärtliche gütige Harmonien—das nehme ich mir aus der ganzen Musik heraus. Im Grunde sind mir wenige Takte genug.
Wagner vom Anfang bis zum Ende ist mir unmöglich geworden, weil er nicht gehen kann, geschweige denn tanzen.
Aber das sind physiologische Urtheile, keine aesthetische: nur—habe ich keine Aesthetik mehr!
Kann er gehen?
Kann er tanzen?
— die entliehenen Formen z.B. Brahms, als typischer “Epigone” Mendelssohn’s gebildeter Protestantismus ebenfalls (eine frühere “Seele” wird nachgedichtet ...)
— die moralischen und poetischen Substitutionen bei W[agner] die eine Kunst als Nothbehelf für Mängel in den anderen.
— der “historische Sinn,” die Inspiration durch Dichten, Sagen jene typische Verwandlung, für die unter Franzosen G. Flaubert, unter D[eutschen] R. W[agner] das deutlichste Beispiel ist
wie der romantische Glaube an die Liebe und die Zukunft in das Verlangen zum Nichts sich umwandelt, 1830 in 1850
wenn irgend Etwas erreicht ist, so ist es ein harmloseres Verhalten zu den Sinnen, eine freudigere wohlwollendere Goetheschere Stellung zur Sinnlichkeit
insgleichen eine stolzere Empfindung in Betreff des Erkennens: so daß der “reine Thor” wenig Glauben findet
Physiologie der Kunst
Beethoven—un pauvre grand homme, sourd, amoureux, méconnu et philosophe, dont la musique est pleine de rêves gigantesques ou douloureux. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:296.]
Mozart—ganz deutsche Gefühle ausdrückend, la candeur naïve, la tendresse mélancholique, contemplative, les vagues sourires, les timidités de l’amour. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:297.]
Das Piano exalte et raffine. Mendelsohn les entoure de rêves ardents, délicats, maladifs. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:300.]
Les âpres désirs tourmentés, les cris brisés, révoltés, les passions modernes, sortent de tous les accords de Meyerbeer. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:301.]
In Hinsicht auf die Maler.
tous ces modernes sont des poètes, qui ont volu être peintres. L’un a cherché des drames dans l’histoire, l’autre des scènes de moeurs, celui-ci traduit des religions, celui-là une philosophie. Jener ahmt Raffael nach, ein anderer die ersten ital[ienischen] Meister; die Landschafter verwenden Bäume und Wolken, um Oden und Elegien zu machen. Keiner ist einfach Maler; alle sind Archäologen, Psychologen, In-Scene-Setzen irgendwelcher Erinnerung oder Theorie. Sie gefallen sich an unsrer Erudition, an unsrer Philosophie. Sie sind, wie wir, voll und übervoll von allgemeinen Ideen. Sie lieben eine Form nicht um das, was sie ist, sondern um das, was sie ausdrückt. Sie sind die Söhne einer gelehrten, gequälten und reflektirten Generation—Tausend Meilen weit von den alten Meistern, welche nicht lasen, und nur dran dachten, ihren Augen ein Fest zu geben. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:345.]
Unser Zustand: der Wohlstand macht die Sensibilität wachsen; man leidet an den kleinsten Leiden; unser Körper ist besser geschützt, unsere Seele kränker. Die Gleichheit, das bequeme Leben, die Freiheit des Denkens,—aber zu gleicher Zeit l’envie haineuse, la fureur de parvenir, l’impatience du présent, le besoin du luxe, l’instabilité des gouvernements, les souffrances du doute et de la recherche. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:175.]
— man verliert ebenso viel als man gewinnt —
Ein Bürger von 1850, verglichen mit dem von 1750, glücklicher? moins opprimé, plus instruit, mieux fourni de bien-être, aber nicht plus gai - - - [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:175.]
Im 17ten Jahrhundert war nichts häßlicher als ein Gebirge; man hatte tausend Gedanken ans Unglück dabei. Man war müde der Barbarei, wie wir heute müde der Civilisation sind. Die Straßen heute so reinlich, die Gendarmes in Überfluß, die Sitten so friedlich, die Ereignisse so klein, so vorhergesehen, daß man aime la grandeur et l’imprévu. Die Landschaft wechselt wie die Litteratur; damals bot sie lange zuckersüße Romane und galante Abhandlungen: heute bietet sie la poésie violente et des drames physiologistes. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:192.]
Diese Wildniß, die allgemeine unversöhnliche Herrschaft der nackten Felsen ennemi de la vie—nous délasse de nos trottoirs, de nos bureaux et nos boutiques. Nur deshalb lieben wir sie [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:193.]
| Zu Delacroix: |
| chanter avec la couleur “du Echo der Stimme Victor Hugo’s während der Kriege hatten sich in die französische Seele eingeschlichen la mélancholie poétique d’Angleterre, le lyrisme philosophique d’Allemagne l’âme complémentaire de Victor Hugo [Vgl. G[uillaume] Dubufe Fils, "Eugène Delacroix." In: La Nouvelle revue. Septième Année. Tome trente-troisième (1. avril 1885). Paris: [s.n.], 590-617 (591f.). s. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: G. Dubufe Fils.] |
das Übergewicht der Musik in den Romantikern von 1830 und 40
Delacroix
Ingres ein leidenschaftlicher Musiker, Cultus für Gluck Haydn, Beethoven Mozart [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:246. S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
sagte seinen Schülern in Rom “si je pouvais vous rendre tous musiciens, vous y gagneriez comme peintres” — ) [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:246 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
insgleichen Horace Vernet, mit einer besonderen Leidenschaft für den Don Juan (wie Mendelssohn bezeugt 1831) [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:225 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
insgleichen Stendhal, der von sich sagt: — — —
Der Präsident De Brosses sagt von der campagna Romana: “il fallait que Romulus fût ivre, quand il songea à bâtir une ville dans un terrain aussi laid” [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:39 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
Fénelon vergleicht den gothischen Stil mit einer schlechten Predigt.
Chateaubriand 1803 in einem Briefe an M. de Fontanes giebt den ersten Eindruck der campagna Romana. [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:67 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
Lamartine hat für Sorrent und den Posilipp die Sprache — [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:74 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
V. Hugo schwärmt für Spanien, parce que “aucune autre nation n’a moins imprunté à l’antiquité, parce qu’elle n’a subi aucune influence classique” [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:141 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.]
Auch Delacroix wollte Rom nicht, es machte ihm Furcht. Er schwärmte für Venedig, wie Shakespeare, wie Byron, wie G. Sand. [Vgl. Albert Bournet, Rome. Études de littérature et d'art. Paris: Plon, 1883:141 S. Nietzsche's Library. New Sources of Nietzsche's Reading: Albert Bournet.] Die Abneigung gegen Rom auch bei Th. Gautier—und bei R. Wagner.
Was an unsrer Democratie zum Lachen ist: der schwarze Rock ...
l’envie, la tristesse, le manque de mesure et de politesse, les héros de George Sand, de Victor Hugo et de Balzac
(et de Wagner)
[Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:41.]
le goût de la Renaissance
ein Ameublement darin, éclatant et sombre, d’un style tourmenté et magnifique
[Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:65.]
cet âge de force et d’effort, d’audace inventive, de plaisirs effrénés et de labeur terrible, de sensualité et d’hérosïme [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:65.]
Jeanne d’Albret, die Mutter Heinrich IV, nach d’Aubingés Urtheil:
“princesse n’ayant de la femme que le sexe, l’âme entière aux choses viriles, l’esprit puissant aux grandes affaires, le coeur invincible aux adversités.” [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:65.]
Agir, oser, jouir, dépenser sa force et sa peine en prodigue, s’abandonner à la sensation présente, être toujours pressé de passions toujours vivantes, supporter et rechercher les excès de tous les contrastes, voilà la vie du seizième siècle. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:70-71.]
Parmi ces violences et ces voluptés la dévotion était ardente. Die Religion war damals nicht eine Tugend, sondern eine Passion. Man gieng zur Kirche wie zur Schlacht oder zum Rendezvous. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:74.]
die Ritter in der Zeit der Kreuzzüge—enfants robustes. Im Tödten und Heulen ein Raubthier. Ist die Wuth vorüber, dann kommen sie auf Thränen zurück und werfen sich munter an den Hals, zärtlich. [Vgl. Hippolyte Taine, Voyage aux Pyrénées. Paris: Hachette, 1858:142-43.]
Das Urtheil “angenehm” “unangenehm” vgl. Musik—wechselt und formirt sich nach dem, was wir als “gesetzlich” vernünftig, sinnvoll, bedeutsam empfinden.
Physiologie der Kunst
Der Sinn und die Lust an der Nüance (die eigentliche Modernität), an dem, was nicht generell ist, läuft dem Triebe entgegen, welcher seine Lust und Kraft im Erfassen des Typischen hat: gleich dem griechischen Geschmacke der besten Zeit. Ein Überwältigen der Fülle des Lebendigen ist darin, das Maaß wird Herr, jene Ruhe der starken Seele liegt zu Grunde, welche sich langsam bewegt und einen Widerwillen vor dem Allzu-Lebendigen hat. Der allgemeine Fall, das Gesetz wird verehrt und heraus gehoben; die Ausnahme wird umgekehrt bei Seite gestellt, die Nuance weggewischt. Das Feste, Mächtige, Solide, das Leben, das breit und gewaltig ruht und seine Kraft birgt—das “gefällt”: d.h. das correspondirt mit dem, was man von sich hält.