Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Nihilismus
Zur Vorrede.
Ich habe eine Tortur bisher ausgestanden: alle die Gesetze, auf denen das Leben sich entwickelt, schienen mir im Gegensatz zu den Werthen zu stehen, um derentwillen Unsereins zu leben aushält. Es scheint das nicht der Zustand zu sein, an dem Viele bewußt leiden: trotzdem will ich die Zeichen zusammenstellen, aus denen ich annehme, daß es der Grundcharakter, das eigentlich tragische Problem unsrer modernen Welt und als geheime Noth Ursache oder Auslegung aller ihrer Nöthe ist. Dies Problem ist in mir bewußt geworden.
Nihilismus
A.
Von einer vollen herzhaften Würdigung unserer jetzigen M[enschheit] auszugehen:
sich nicht durch den Augenschein täuschen lassen (diese Menschheit ist weniger “effektvoll,” aber sie giebt ganz andere Garantien der Dauer, ihr tempo ist langsamer, aber der Takt selbst ist viel reicher
die Gesundheit nimmt zu, die wirklichen Bedingungen des starken Leibes werden erkannt und allmählich geschaffen, der “Asketismus” ironice —
die Scheu vor Extremen, ein gewisses Zutrauen zum “rechten Weg,” keine Schwärmerei; ein zeitweiliges Sich-Einleben in engere Werthe (wie “Vaterland”), wie “Wissenschaft” usw.
dies ganze Bild wäre aber immer noch zweideutig:
— es könnte eine aufsteigende
— oder aber eine absteigende Bewegung des Lebens sein.
B.
Der Glaube an den “Fortschritt”—in der niederen Sphäre der Intelligenz erscheint er als aufsteigendes Leben: aber da ist Selbsttäuschung;
in der höheren Sphäre der Intelligenz als absteigendes
Schilderung der Symptome.
Einheit des Gesichtspunktes: Unsicherheit in Betreff der Werthmaaße.
Furcht vor einem allgemeinen “Umsonst”
Nihilismus.
C.
Die Abhängigkeit aller Werthmaaße von den moralischen
der religiösen, ästhetischen, wirtschaftlichen, politischen, wissenschaftlichen
D.
Anzeichen eines Niedergangs im Glauben an die Moral.
Nihilismus.
Nichts ist gefährlicher als eine dem Wesen des Lebens widerstreitende Wünschbarkeit.
die nihilistische Consequenz (der Glaube an die Werthlosigkeit) als Folge der moral[ischen] Werthschätzung
das Egoistische ist uns verleidet (selbst nach der Einsicht in die Unmöglichkeit des Unegoistischen)
das Nothwendige ist uns verleidet (selbst nach Einsicht in die Unmöglichkeit eines liberum arbitrium und einer “intelligiblen Freiheit”)
wir sehen, daß wir die Sphäre, wohin wir unsere Werthe gelegt haben, nicht erreichen—damit hat die andere Sphäre, in der wir leben, noch keineswegs an Werth gewonnen: im Gegentheil, wir sind müde, weil wir den Hauptantrieb verloren haben. “Umsonst bisher!”
Hemmung der Erkenntniß durch die Moral.
z.B. Versuch, das Leben mit der Moral zu vereinbaren (zu identificiren) und vor der Moral zu rechtfertigen
Altruismus uranfänglich
die selbstlose Denkweise möglich auch sans obligation und sanction
In wiefern die Moral die Erkenntniß gehemmt hat.
der Werth des Individuums, die “ewige Seele,” Fälschung der Psychologie
Widerstand gegen die Causalität: Fälschung der Physik
gegen die Entstehungsgeschichte überhaupt:
Fälschung der Historie. Fälschung der Erkenntnißtheorie