Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Werth von Wahrheit und Irrthum
Der Ursprung unsrer Werthschätzungen: aus unsren Bedürfnissen
Ob nicht der Ursprung unsrer anscheinenden “Erkenntnisse” auch nur in älteren Werthschätzungen zu suchen ist, welche so fest einverleibt sind, daß sie zu unsrem Grundbestand gehören? So daß eigentlich nur jüngere Bedürfnisse mit dem Resultat der ältesten Bedürfnisse handgemein werden?
Die Welt, so und so gesehen, empfunden, ausgelegt, daß organisches Leben bei dieser Perspektive von Auslegung sich erhält. Der Mensch ist nicht nur ein Individuum, sondern das Fortlebende Gesammt-Organische in Einer bestimmten Linie. Daß er besteht, damit ist bewiesen, daß eine Gattung von Interpretation (wenn auch immer fortgebaut) auch bestanden hat, daß das System der Interpretation nicht gewechselt hat. “Anpassung”
Unser “Ungenügen,” unser “Ideal” usw. ist vielleicht die Consequenz dieses einverleibten Stücks Interpretation, unseres perspektivischen Gesichtspunkts; vielleicht geht endlich das organische Leben daran zu Grunde—so wie die Arbeitstheilung von Organismen zugleich eine Verkümmerung und Schwächung der Theile, endlich den Tod für das Ganze mit sich bringt. Es muß der Untergang des organischen Lebens auf seiner höchsten Form ebenso angelegt sein wie der Untergang des Einzelnen.
Werth von Wahrheit und Irrthum |
| Die Werthschätzungen | A) als Folge (Leben, oder Niedergang B) als Ursache |
| mißverständliche Auslegung Maskerade als Kunst der Verleumdung, der Selbstverherrlichung |
ständisch bedingt
rassemäßig bedingt
Sonntags- und Alltags-Werthe
in Krisen, in Kriegen und Gefahren oder im Frieden
| die Entstehung im Ruhm eines Ideals, in der Verurtheilung seines Gegentheils. |
| Antagonismus | zwischen Verstärkung und “Verbesserung,” zwischen Verstärkung des Individuums und Verstärkung einer Rasse, zwischen Verstärkung einer Rasse und Verstärkung der “Menschheit.” |
NB. Das “Schöpferische” wie tief hinein?
warum alle Thätigkeit, auch die eines Sinnes, mit Lust verknüpft? Weil vorher eine Hemmung, ein Druck bestand? Oder vielmehr weil alles Thun ein Überwinden, ein Herrwerden ist und Vermehrung des Machtgefühls giebt?— Die Lust im Denken.— Zuletzt ist es nicht nur das Gefühl der Macht, sondern die Lust an dem Schaffen und am Geschaffenen: denn alle Thätigkeit kommt uns ins Bewußtsein als Bewußtsein eines “Werks”
Werth von Wahrheit und Irrthum
Ein Künstler hält keine Wirklichkeit aus, er blickt weg, zurück, seine ernsthafte Meinung ist, daß was ein Ding werth ist, jener schattengleiche Rest ist, den man aus Farben, Gestalt, Klang, Gedanken gewinnt, er glaubt daran, daß, je mehr subtilisirt verdünnt verflüchtigt ein Ding, ein Mensch wird, um so mehr sein Werth zunimmt: je weniger real, um so mehr Werth. Dies ist Platonismus: der aber noch eine Kühnheit mehr besaß, im Umdrehen:—er maß den Grad Realität nach dem Werthgrade ab und sagte: je mehr “Idee,” desto mehr Sein. Er drehte den Begriff “Wirklichkeit” herum und sagte: “was ihr für wirklich haltet, ist ein Irrthum, und wir kommen, je näher wir der ‘Idee’ kommen, [um so näher] der ‘Wahrheit.’”— Versteht man es? Das war die größte Umtaufung: und weil sie vom Christenthum aufgenommen ist, so sehen wir die erstaunliche Sache nicht. Plato hat im Grunde den Schein, als Artist, der er war, dem Sein vorgezogen: also die Lüge und Erdichtung der Wahrheit, das Unwirkliche dem Vorhandenen,—er war aber so sehr vom Werthe des Scheins überzeugt, daß er ihm die Attribute “Sein” “Ursächlichkeit” und “Gutheit,” Wahrheit, kurz Alles Übrige beilegte, dem man Werth beilegt.
Der Werthbegriff selbst, als Ursache gedacht: erste Einsicht.
Das Ideal mit allen Attributen bedacht, die Ehre verleihen: zweite Einsicht