Ende 1886 - Frühjahr 1887 7 [1-70]
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Der Wille zur Wahrheit
Die “Agnostiker,” die Verehrer des Unbekannten und Geheimnißvollen an sich, woher nehmen sie das Recht, ein Fragezeichen als Gott anzubeten? Ein Gott, der sich dergestalt im Verborgenen hält, verdient vielleicht Furcht, aber gewiß nicht Anbetung! Und warum könnte das Unbekannte nicht der Teufel sein? Aber “es muß angebetet werden”—so gebietet hier der Instinkt für den Anstand: das ist englisch.
Die Transcendentalisten, welche finden, daß alle menschliche Erkenntniß nicht den Wünschen ihres Herzens genugthut, vielmehr ihnen widerspricht und Schauder macht,—sie setzen unschuldig eine Welt irgendwo an, welche dennoch ihren Wünschen entspricht, und die eben nicht unserer Erkenntniß [sich] zugänglich zeigt: diese Welt, meinen sie, sei die wahre Welt, im Verhältniß zu welcher unsere erkennbare Welt nur Täuschung ist. So Kant, so schon die Vedanta-Philosophie, so manche Amerikaner.— “Wahr,” das heißt für sie: was dem Wunsche unseres Herzens entspricht. Ehemals hieß wahr: was der Vernunft entspricht.
Das allgemeinste Zeichen der modernen Zeit: der Mensch hat in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt. Lange als Mittelpunkt und Tragödien-Helddes Daseins überhaupt; dann wenigstens bemüht, sich [als] verwandt mit der entscheidenden und an sich werthvollen Seite des Daseins zu beweisen—wie es alle Metaphysiker thun, die die Würde des Menschen festhalten wollen, mit ihrem Glauben, daß die moralischen Werthe cardinale Werthe sind. Wer Gott fahren ließ, hält um so strenger am Glauben an die Moral fest.
Wille zur Wahrheit
Abschwächungen des Affekts.
| A. | a | Wille, Absicht, vehemente Begierde in Eine Richtung | |
| b | Zweck, weniger vehement, weil die Vorstellung des Mittels und Wegs dazwischen tritt. | ||
| c | “Grund,” ohne Begierde: der Satz vom Grunde hat seine psychologische Sicherheit in dem Glauben an Absicht als Ursache jedes Geschehens |
| B. | unterscheidendes Denken als Folge der Furcht und Vorsicht bei dem Willen zur Aneignung. das richtige Vorstellen eines Objekts ist ursprünglich nur Mittel zum Zweck des Ergreifens, des Fassens und Sich-bemächtigens. Später wird dieses richtige Vorstellen selbst schon als ein Ergreifen empfunden, als ein Ziel, bei dem Befriedigung eintritt. Denken zuletzt als Überwältigung und Ausübung von Macht: als ein Zusammenfügen, als Einordnen des Neuen unter alte Reihen usw. |
| C. | das Neue macht Furcht: andrerseits muß Furcht schon da sein, um Neues als neu zu fassen |
| das Erstaunen ist die abgeschwächte Furcht. |
| Das Bekannte erregt Vertrauen |
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| die inertia versucht zunächst das Gleichsetzen bei jedem Eindruck: das heißt den neuen Eindruck und die Erinnerung gleichsetzen; sie will Wiederholung. die Furcht lehrt Unterscheiden, Vergleichen |
Im Urtheil ein Rest Wille (es soll so und so sein) ein Rest Lust-Gefühl (Lust der Bejahung:)
NB. Das Vergleichen ist keine ursprungliche Thätigkeit, sondern das Gleichsetzen! Das Urtheil ist ursprünglich nicht der Glaube, daß etwas so und so ist, sondern der Wille daß etwas so und so sein soll.
NB. der Schmerz ein Urtheil (verneinend) in seiner gröbsten Form
die Lust eine Affirmation
Zur psychologischen Genesis von “Ursache und Wirkung.”
Wille zur Wahrheit
Interpretation
In wiefern die Welt-Auslegungen Symptom eines herrschenden Triebes sind.
Die artistische Welt-Betrachtung: sich vor das Leben hinsetzen. Aber hier fehlt die Analysis des aesthetischen Anschauens, seine Reduktion auf Grausamkeit, Gefühl der Sicherheit, des Richter-seins und Außerhalb-seins usw. Man muß den Künstler selbst nehmen: und dessen Psychologie (die Kritik des Spieltriebs, als Auslassen von Kraft, Lust am Wechsel, am Eindrücken der eigenen Seele, der absolute Egoismus des Künstlers usw.) Welche Triebe er sublimisirt?
Die wissenschaftliche Welt-Betrachtung: Kritik des psychologischen Bedürfnisses nach Wissenschaft. Das Begreiflich-machen-wollen; das Praktisch-, Nützlich-, Ausbeutbar-machen-wollen—: in wiefern anti-aesthetisch. Der Werth allein, was gezählt und berechnet werden kann. In wiefern eine durchschnittliche Art Mensch dabei zum Übergewicht kommen will. Furchtbar, wenn gar die Geschichte in dieser Weise in Besitz genommen wird—das Reich des Überlegenen, des Richtenden. Welche Triebe er sublimirt!
Die religiöse Welt-Betrachtung: Kritik des religiösen Menschen. Es ist nicht nothwendig der moralische, sondern der Mensch der starken Erhebungen und tiefen Depressionen, der die ersteren mit Dankbarkeit oder Verdacht interpretirt und nicht von sich herleitet (—die letzteren auch nicht—) Wesentlich der sich “unfrei” fühlende Mensch, der seine Zustände, die Unterwerfungs-Instinkte sublimisirt.
Die moralische Welt-Betrachtung. Die socialen Rangordnungs-Gefühle werden ins Universum verlegt: die Unverrückbarkeit, das Gesetz, die Einordnung und Gleichordnung werden, weil am höchsten geschätzt, auch an der höchsten Stelle gesucht, über dem All, oder hinter dem All, ebenso — — —
Was gemeinsam ist: die herrschenden Triebe wollen auch als hochste Werth-Instanzen überhaupt, ja als schöpferische und regierende Gewalten betrachtet werden. Es versteht sich, daß diese Triebe sich gegenseitig entweder anfeinden oder unterwerfen (synthetisch auch wohl binden) oder in der Herrschaft wechseln. Ihr tiefer Antagonismus ist aber so groß, daß wo sie alle Befriedigung wollen, ein Mensch von tiefer Mittelmäßigkeit zu denken ist.
“Schönheit” ist deshalb für den Künstler etwas außer aller Rangordnung, weil in der Schönheit Gegensätze gebändigt sind, das höchste Zeichen von Macht, nämlich über Entgegengesetztes; außerdem ohne Spannung:—daß keine Gewalt mehr noth thut, daß alles so leicht folgt, gehorcht, und zum Gehorsam die liebenswürdigste Miene macht—das ergötzt den Machtwillen des Künstlers.
Die Welt-Auslegungen
und was ihnen gemein ist.