Herbst 1887 9 [1-100]
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(27) 1. Der Nihilism ein normaler Zustand. Nihilism: es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das “Warum?” was bedeutet Nihilism?—daß die obersten Werthe sich entwerthen.
Er ist zweideutig:
A)) Nihilism als Zeichen der gesteigerten Macht des Geistes: als activer Nihilism.
Er kann ein Zeichen von Stärke sein: die Kraft des Geistes kann so angewachsen sein, daß ihr die bisherigen Ziele (“Überzeugungen,” Glaubensartikel) unangemessen sind
— ein Glaube nämlich drückt im Allgemeinen den Zwang von Existenzbedingungen aus, eine Unterwerfung unter die Autorität von Verhältnissen, unter denen ein Wesen gedeiht, wächst, Macht gewinnt ...
Andrerseits ein Zeichen von nicht genügender Stärke, um produktiv sich nun auch wieder ein Ziel, ein Warum? einen Glauben zu setzen.
Sein Maximum von relativer Kraft erreicht er als gewaltthätige Kraft der Zerstörung: als aktiver Nihilism. Sein Gegensatz wäre der müde Nihilism, der nicht mehr angreift: seine berühmteste Form der Buddhismus: als passivischer Nihilism
Der Nihilism stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf gar keinen Sinn): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind: sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hülfsmittel noch nicht erfunden hat.
B)) Nihilism als Niedergang und Rückgang der Macht des Geistes: der passive Nihilism
als ein Zeichen von Schwäche: die Kraft des Geistes kann ermüdet, erschöpft sein, so daß die bisherigen Ziele und Werthe unangemessen sind und keinen Glauben mehr finden —
daß die Synthesis der Werthe und Ziele (auf der jede stärke Cultur beruht) sich löst, so daß die einzelnen Werthe sich Krieg machen: Zersetzung
daß Alles, was erquickt, heilt, beruhigt, betäubt, in den Vordergrund tritt, unter verschiedenen Verkleidungen, religiös, oder moralisch oder politisch oder ästhetisch usw.
2. Voraussetzung dieser Hypothese
Daß es keine Wahrheit giebt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein “Ding an sich” giebt
— dies ist selbst ein Nihilism, und zwar der extremste. Er legt den Werth der Dinge gerade dahinein, daß diesem Werthe keine Realität entspricht und entsprach, sondern nur ein Symptom von Kraft auf Seiten der Werth-Ansetzung, eine Simplification zum Zweck des Lebens