Herbst 1887 9 [1-100]
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(39) Nichts ist weniger unschuldig als das neue Testament. Man weiß, auf welchem Boden es gewachsen ist. Dies Volk, mit einem unerbittlichen Willen zu sich selbst, das sich, nachdem es jeden natürlichen Halt verloren und sein Recht auf Dasein längst eingebüßt hatte, dennoch durchzusetzen wußte und dazu nöthig hatte, sich ganz und gar auf unnatürliche, rein imaginäre Voraussetzungen (als auserwähltes Volk, als Gemeinde der Heiligen, als Volk der Verheißung, als “Kirche”) aufzubauen: dies Volk handhabt die pia fraus mit einer Vollendung, mit einem Grad “guten Gewissens” [daß] man nicht vorsichtig genug sein kann, wenn es Moral predigt. Wenn Juden als die Unschuld selber auftreten, da ist die Gefahr groß geworden: man soll seinen kleinen fond Verstand, von Mißtrauen, von Bosheit immer in der Hand haben, wenn man das neue Testament liest.
Leute niedrigster Herkunft, zum Theil Gesindel, die Ausgestoßenen nicht nur der guten, sondern auch der achtbaren Gesellschaft, abseits selbst vom Geruche der Cultur aufgewachsen, ohne Zucht, ohne Wissen, ohne jede Ahnung davon, daß es in geistigen Dingen Gewissen geben könnte (das Wort “Geist” immer nur als Mißverständniß da: was alle Welt “Geist” nennt, ist diesem Volke immer noch “Fleisch”) eben—Juden: instinktiv klug, aus allen abergläubischen Voraussetzungen, mit der Unwissenheit selbst einen Vorzug, eine Verführung zu schaffen