Herbst 1887 9 [1-100]
9 [97]
(67) Ein und dasselbe zu bejahen und zu verneinen mißlingt uns: das ist ein subjektiver Erfahrungssatz, darin drückt sich keine “Nothwendigkeit” aus, sondern nur ein Nicht-vermögen. [Vgl. Otto Liebmann, Gedanken und Thatsachen: philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. H. 1: Die Arten der Nothwendigkeit.— Die mechanische Naturerklärung.— Idee und Entelechie. Straßburg: Trübner, 1882:29-30.]
Wenn, nach Aristoteles der Satz vom Widerspruch der gewisseste aller Grundsätze ist, wenn er der letzte und unterste ist, auf den alle Beweisführung[en] zurückgehn, wenn in ihm das Princip aller anderen Axiome liegt: um so strenger sollte man erwägen, was er im Grunde schon an Behauptungen voraussetzt. [Vgl. Otto Liebmann, Gedanken und Thatsachen: philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. H. 1: Die Arten der Nothwendigkeit.— Die mechanische Naturerklärung.— Idee und Entelechie. Straßburg: Trübner, 1882:24.] Entweder wird mit ihm etwas in Betreff des Wirklichen, Seienden behauptet, wie als ob er dasselbe anderswoher bereits kennte: nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zugesprochen werden können. Oder der Satz will sagen: daß ihm entgegengesetzte Prädikate nicht zugesprochen werden sollen? Dann wäre Logik ein Imperativ, nicht zur Erkenntniß des Wahren, sondern zur Setzung und Zurechtmachung einer Welt, die uns wahr heißen soll.
Kurz, die Frage steht offen: sind die logischen Axiome dem Wirklichen adäquat, oder sind sie Maaßstäbe und Mittel, um Wirkliches den Begriff “Wirklichkeit” für uns erst zu schaffen? ... Um das Erste bejahen zu können, müßte man aber, wie gesagt, das Seiende bereits kennen; was schlechterdings nicht der Fall ist. Der Satz enthält also kein Kriterium der Wahrheit, sondern einen Imperativ über das, was als wahr gelten soll.
Gesetzt, es gäbe ein solches Sich-selbst-identisches A gar nicht, wie es jeder Satz der Logik (auch der M[athematik]) voraussetzt, das A wäre bereits eine Scheinbarkeit, so hätte die Logik eine bloß scheinbare Welt zur Voraussetzung. In der That glauben wir an jenen Satz unter dem Eindruck der unendlichen Empirie, welche ihn fortwährend zu bestätigen scheint. Das “Ding”—das ist das eigentliche Substrat zu A; unser Glaube an Dinge ist die Voraussetzung für den Glauben an die Logik. Das A der Logik ist wie das Atom eine Nachconstruktion des “Dings” ... Indem wir das nicht begreifen, und aus der Logik ein Kriterium des wahren Seins machen, sind wir bereits auf dem Wege, alle jene Hypostasen, Substanz Prädicat Object Subject Action usw., als Realitäten zu setzen: d.h. eine metaphysische Welt zu concipiren, d.h. “wahre Welt” (—diese ist aber die scheinbare Welt noch einmal ...)
Die ursprünglichsten Denkakte, das Bejahen und Verneinen das Für-wahr-halten und Nicht-für-wahr-halten, sind, insofern sie nicht nur eine Gewohnheit, sondern ein Recht voraussetzen, überhaupt Für-wahr-zu halten oder für-unwahr zu halten, bereits von einem Glauben beherrscht, daß es für uns Erkenntniß giebt, daß Urtheilen wirklich die Wahrheit treffen könne:—kurz, die Logik zweifelt nicht, etwas vom An-sich-Wahren aussagen zu können (nämlich daß ihm nicht entgegengesetzte Prädikate zukommen können)
Hier regiert das sensualistische grobe Vorurtheil, daß die Empfindungen uns Wahrheiten über die Dinge lehren,—daß ich nicht zu gleicher Zeit von ein und demselben Ding sagen kann, es ist hart und es ist weich (der instinktive Beweis “ich kann nicht 2 entgegengesetzte Empfindungen zugleich haben”—ganz grob und falsch). Das begriffliche Widerspruchs-Verbot geht von dem Glauben aus, daß wir Begriffe bilden können, daß ein Begriff das Wesen eines Dinges nicht nur bezeichnet, sondern faßt ... Thatsächlich gilt die Logik (wie die Geometrie und Arithmetik) nur von fingirten Wahrheiten, die wir geschaffen haben. Logik ist der Versuch, nach einem von uns gesetzten Seins-Schema die wirkliche Welt zu begreifen, richtiger, uns formulirbar, berechenbar zu machen ...