Herbst 1887 9 [1-100]
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(46) Ungeheure Selbstbesinnung: nicht als Individuum, sondern als Menschheit sich bewußt werden. Besinnen wir uns, denken wir zurück: gehen wir die kleinen und großen Wege
A. Der Mensch sucht “die Wahrheit”: eine Welt, die nicht sich widerspricht, nicht täuscht, nicht wechselt, eine wahre Welt—eine Welt, in der man nicht leidet: Widerspruch, Täuschung, Wechsel—Ursachen des Leidens! Er zweifelt nicht, daß es eine Welt, wie sie sein soll, giebt; er möchte zu ihr sich den Weg suchen. (Indische Kritik: selbst das “Ich” als scheinbar, als nicht-real)
Woher nimmt hier der Mensch den Begriff der Realität? —
Warum leitet er gerade das Leiden von Wechsel, Täuschung, Widerspruch ab? und warum nicht vielmehr sein Glück? ... —
Die Verachtung, der Haß gegen Alles, was vergeht, wechselt, wandelt:—woher diese Werthung des Bleibenden?
Ersichtlich ist hier der Wille zur Wahrheit bloß das Verlangen in eine Welt des Bleibenden.
Die Sinne täuschen, die Vernunft corrigirt die Irrthümer: folglich, schloß man, ist die Vernunft der Weg zu dem Bleibenden; die unsinnlichsten Ideen müssen der “wahren Welt” am nächsten sein.— Von den Sinnen her kommen die meisten Unglücksschläge—sie sind Betrüger, Bethörer, Vernichter:
Das Glück kann nur im Seienden verbürgt sein: Wechsel und Glück schließen sich aus. Der höchste Wunsch hat demnach die Einswerdung mit dem Seienden im Auge. Das ist die Formel für Weg zum höchsten Glück.
In summa: Die Welt, wie sie sein sollte, existirt; diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrthum, — diese unsere Welt sollte nicht existiren.
Der Glaube an das Seiende erweist sich nur [als] eine Folge: das eigentliche primum mobile ist der Unglaube an das Werdende, das Mißtrauen gegen das Werdende, die Geringschätzung alles Werdens.
Was für eine Art Menschen reflektirt so? Eine unproduktive leidende Art; eine lebensmüde Art. Dächten wir uns die entgegengesetzte Art Mensch, so hätte sie den Glauben an das Seiende nicht nöthig: mehr noch, sie würde es verachten, als todt, langweilig, indifferent ...
Der Glaube, daß die Welt, die sein sollte, ist, wirklich existirt, ist ein Glaube der Unproduktiven, die nicht eine Welt schaffen wollen, wie sie sein soll. Sie setzen sie als vorhanden, sie suchen nach Mitteln und Wegen, um zu ihr zu gelangen. “Wille zur Wahrheit”—als Ohnmacht des Willens zum Schaffen
| erkenne, daß etwas so und so ist thun, daß etwas so und so wird. | ï ï | Antagonismus in den Kraft-Graden der Naturen |
Fiktion einer Welt, welche unseren Wünschen entspricht, psychologische Kunstgriffe und Interpretationen, um alles, was wir ehren und als angenehm empfinden, mit dieser wahren Welt zu verknüpfen.
“Wille zur Wahrheit” auf dieser Stufe ist wesentlich Kunst der Interpretation; wozu immer noch Kraft der Interpretation gehört.
Dieselbe Species Mensch, noch eine Stufe ärmer geworden, nicht mehr im Besitz der Kraft zu interpretiren, des Schaffens von Fiktionen, macht den Nihilisten. Ein Nihilist ist der Mensch, welcher von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht. Demnach hat dasein (handeln, leiden, wollen, fühlen) keinen Sinn: das Pathos des “Umsonst” ist das Nihilisten-Pathos—zugleich noch als Pathos eine Inconsequenz des Nihilisten.
Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen vermag, der Willens- und Kraftlose, der legt wenigstens noch einen Sinn hinein: d.h. den Glauben, daß schon ein Wille darin sei, der in den Dingen wirken u[nd] wollen soll.
Es ist ein Gradmesser von Willenskraft, wie weit man des Sinnes in den Dingen entbehren kann, wie weit man in einer sinnlosen Welt zu leben aushält: weil man ein kleines Stück von ihr selbst organisirt.
Das philosophische Objektiv-Blicken kann somit ein Zeichen von Willens- und Kraft-Armuth sein. Denn die Kraft organisirt das Nähere und Nächste; die “Erkennenden,” welche nur feststellen wollen, was ist, sind solche, die nichts festsetzen können, wie es sein soll.
Die Künstler eine Zwischenart: sie setzen wenigstens ein Gleichniß von dem fest, was sein soll—sie sind produktiv, insofern sie wirklich verändern und umformen; nicht, wie die Erkennenden, welche Alles lassen, wie es ist.
Zusammenhang der Philosophen mit den pessimistischen Religionen: dieselbe Species Mensch (—sie legen den höchsten Grad von Realität den höchstgewertheten Dingen bei.
Zusammenhang der Philosophen mit den moralischen Menschen und deren Werthmaaßen. (Die moralische Weltauslegung als Sinn= nach Niedergang des religiösen Sinnes —
Überwindung der Philosophen, durch Vernichtung der Welt des Seienden: Zwischenperiode des Nihilismus: bevor die Kraft da ist, die Werthe umzuwenden und das Werdende die scheinbare Welt als die Einzige zu vergöttlichen u[nd] gutzuheißen.
B. Der Nihilism als normales Phänomen kann ein Symptom wachsender Stärke sein oder wachsender Schwäche.
theils daß die Kraft zu schaffen, zu wollen so gewachsen ist, daß sie diese Gesammt-Ausdeutungen und Sinn-Einlegungen nicht mehr braucht (“nähere Aufgaben,” Staat usw.)
theils, daß selbst die schöpferische Kraft, Sinn zu schaffen, nachläßt, und die Enttäuschung der herrschende Zustand wird. Die Unfähigkeit zum Glauben an einen “Sinn,” der “Unglaube”
Was die Wissenschaft in Hinsicht auf beide Möglichkeiten bedeutet?
1) Als Zeichen von Stärke und Selbstbeherrschung, als Entbehrenkönnen von heilenden tröstlichen Illusions-Welten
2) als untergrabend, secirend, enttäuschend, schwächend
C. der Glaube an die Wahrheit, das Bedürfniß, einen Halt zu haben an etwas Wahrgeglaubtem: psychologische Reduktion abseits von allen bisherigen Werthgefühlen. Die Furcht, die Faulheit
— insgleichen der Unglaube: Reduktion. In wiefern er einen neuen Werth bekommt, wenn es eine wahre Welt gar nicht giebt (dadurch werden die Werthgefühle wieder frei, die bisher auf die seiende Welt verschwendet worden sind)