Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Der Mensch, in welcher Lage er auch sich befinden möge, braucht eine Art Werthschätzungen, vermöge deren er seine Handlungen, Absichten und Zustände vor sich selber und namentlich vor seiner Umgebung rechtfertigt d. h. selbst-verherrlicht. Jede natürliche Moral ist der Ausdruck der Zufriedenheit einer Art von Menschen mit sich selber: und wenn man Lob nöthig [hat], hat man auch immer eine übereinstimmende Werthtafel nöthig, auf der die Handlungen am höchsten geschätzt sind, deren wir am fähigsten sind, worin unsere eigentliche Kraft sich ausdrückt. Wo unsere Kraft ist, damit wollen wir auch gesehn und geehrt werden.
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Ob man nicht ein Recht hat, alle großen Menschen unter die bösen zu rechnen? Im Einzelnen ist es nicht immer aufzuzeigen. Oft ist ihnen ein meisterhaftes Versteckspielen möglich gewesen, so daß sie die Gebärden und Äußerlichkeiten großer Tugenden annahmen. Oft verehrten sie die Tugenden ernsthaft und mit einer leidenschaftlichen Härte gegen sich selber, aber aus Grausamkeit—dergleichen täuscht, aus der Ferne gesehn. Manche verstanden sich selber falsch, als sie — — — nicht selten fordert eine große Aufgabe große Qualitäten heraus z. B. die Gerechtigkeit. Das Wesentliche ist: die Größten haben vielleicht auch große Tugenden, aber gerade dann noch deren Gegensätze. Ich glaube, daß aus dem Vorhandensein der Gegensätze, und aus deren Gefühle, gerade der große Mensch, der Bogen mit der großen Spannung, entsteht