Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Vorrede.
Darf man Briefe veröffentlichen?— Ein verehrenswürdiger Freund pflegte das Wort “öffentlich” nie ohne Bosheit auszusprechen. Das neunzehnte Jahrhundert, sagte er einmal, liebt wie man weiß die Wahrheit: nun, es geht mir gerade mit diesem Geschmacke wider meinen Geschmack! Ich fürchte, wenn das so weitergeht, schreibt man nur noch öffentliche Briefe. Ja, sagte er ein ander Mal, es könnte kommen, daß irgendwann ein anständiger Mensch seine ganze Moral in Einen Satz faßte: du sollst—lügen! Mein Herr, Sie sollen unbedingt und jeder Zeit lügen! Oder aber, auch Sie sind, was schon alle Welt ist,—“öffentlich”!— Dies war seine geheime Meinung über den Geschmack unseres Jahrhunderts. Als ich darüber nachsann, seiner Brief- und Meinungensammlung einen Titel zu geben, gieng es mir durch den Kopf, sie dergestalt zu bezeichnen:. “Der Spiegel. Eine Gelegenheit zur Selbst-Bespiegelung. Für Europäer.” Möge man aus diesem geschmacklosen Einfalle wenigstens abnehmen, welchen Werth ich bei mir selber diesen Briefen zulege—und warum ich mir das Recht gebe, gerade aus Haß gegen alles, was heute “öffentlich” heißt, diese Briefe zu veröffentlichen.