Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Die Falschheit eines Begriffs ist mir noch kein Einwand gegen ihn. Darin klingt unsere neue Sprache vielleicht am fremdesten: die Frage ist, wie weit er lebenfördernd, lebenerhaltend, arterhaltend ist. Ich bin sogar grundsätzlich des Glaubens, daß die falschesten Annahmen uns gerade die unentbehrlichsten sind, daß ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktion, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selber-Gleichen der Mensch nicht leben kann, und daß ein Verneinen dieser Fiktion, ein praktisches Verzichtleisten auf sie, so viel wie eine Verneinung des Lebens bedeuten würde. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn: das heißt freilich auf eine schreckliche Weise die gewohnten Werthgefühle von sich abthun—und hier, wenn irgend wo, gilt es, sich an der “erkannten Wahrheit” nicht zu “verbluten.” Man muß sofort in dieser höchsten Gefahr die schöpferischen Grund-Instinkte des Menschen heraufrufen, welche stärker sind als alle Werthgefühle: die, welche die Mütter der Werthgefühle selber sind und im ewigen Gebären über das ewige Untergehn ihrer Kinder ihre erhabene Tröstung genießen. Und zuletzt: welche Gewalt war es denn, welche uns zwang, jenem “Glauben an die Wahrheit” abzuschwören, wenn es nicht das Leben selber war und alle seine schöpferischen Grund-Instinkte?— so daß wir also es nicht nöthig haben, diese “Mütter” heraufzubeschwören:—sie sind schon oben, ihre Augen blicken uns an, wir vollführen eben, wozu deren Zauber uns überredet hat.