Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Zuletzt wehren wir uns noch gegen die Menschenkenntniß solcher Sainte-Beuve’s und Renan’s, gegen diese Art Seelen-Aushorchung und -Anschnüffelung, wie sie von diesen unmännlichen Genüßlingen des Geistes ohne Rückgrat gehandhabt wird: es scheint uns gegen die Scham zu gehen, wenn sie mit neugierigen Fingern an den Geheimnissen von Menschen oder Zeiten herumtasten, welche höher, strenger, tiefer waren und in jedem Betracht vornehmer als sie selber: so daß sie nicht so leicht ihre Thüren irgend welchen herumschweifenden Halbweibern aufgethan hätten. Aber dieses neunzehnte Jahrhundert, welches alle feineren Instinkte der Rangordnung eingebüßt hat, weiß nicht mehr den ungewünschten Eindringlingen und Thore-Erbrechern auf die Finger zu schlagen; ja es ist stolz auf seinen “historischen Sinn,” vermöge dessen es dem schwitzenden Plebejer erlaubt wird, vorausgesetzt, daß er mit gelehrten Folter-Werkzeugen und Fragebogen kommt, sich auch in die Gesellschaft von höchster Unnahbarkeit einzudrängen, unter die Heiligen des Gewissens so gut als unter die ewig verhüllten Herrschenden des Geistes. Unter dem historischen Sinn und Wissen ihm liegt mehr Scepsis verborgen als man zunächst sieht: eine beleidigende Scepsis gegen die Rangverschiedenheit von Mensch und Mensch gewendet, und derselbe unverschämte Anspruch auf “Gleichheit” wird sogar in Hinsicht auf die Todten ausgedehnt, welchen sich die bezahlten Diener der öffentlichen Meinung jetzt gegen jeden Lebenden herausnehmen.
Wir aber sind keine Sceptiker—, wir glauben noch an eine Rangordnung der Menschen und Probleme und warten die Stunde ab, wo sich diese Lehre vom Range und von der Ordnung der pöbelhaften Gesellschaft von heute wieder in’s breite Gesicht einschreiben wird. Vielleicht ist diese Stunde auch unsere Stunde.
Sind wir vielleicht, wenn wir keine Sceptiker sind, Kritiker oder “Kriticisten”? Und wenn wir den Versuch und die Lust am Versuche durch unseren Namen noch besonders unterstrichen haben, geschieht das etwa deshalb, weil wir uns des Experimentes in einem weiten und gefährlichen Sinne, aber zum Behufe einer tiefer verstandenen Kritik, zu bedienen lieben? Sind wir vielleicht, im Geheimen, zum Besten unserer Erkenntniß, als Experimentirende gezwungen weiter zu gehen als es der weichmüthige und verzärtelte Geschmack des Jahrhunderts gutheißen kann? In der That, wir möchten nicht alle jene Eigenschaften entbehren, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben: die Sicherheit der Werthmaaße, die bewußte Handhabung einer Einheit von Methode, der gewitzte Muth, das Alleinstehen- und sich verantworten können; ja wir gestehen eine Lust am Neinsagen und Zergliedern, eine gewisse Grausamkeit der Hand zu, welche das Messer sicher führt, auch wenn das Herz dabei blutet. Wir sind härter—, und vielleicht nicht nur gegen uns,—als “humane” Menschen wünschen mögen; wir lassen uns nicht mit der “Wahrheit” ein, weil sie uns “gefällt” oder “erhebt” oder “begeistert”—unser Glaube ist vielmehr gering, daß die Wahrheit je solche angenehmen Gefühle mit sich bringen könnte. Es klingt vielen Ohren peinlich wenn wir sagen: gerade dort springt unser Mißtrauen hervor, wo unser Gefühl zu schönen Wallungen emporsteigt; wir lächeln, wenn Jemand etwas damit zu beweisen glaubt, daß er sagt: “aber dieser Gedanke erhebt mich: wie sollte er nicht wahr sein?” Oder: “dieses Werk entzückt mich—wie sollte es nicht schön sein?” Oder: “dieser Künstler vergrößert mich wie sollte er nicht groß sein?” Wir haben vielmehr mit den Kritikern —