Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Moral ist die Lehre von der Rangordnung der Menschen, und folglich auch von der Bedeutsamkeit ihrer Handlungen und Werke für diese Rangordnung: also die Lehre von den menschlichen Werthschätzungen in Betreff alles Menschlichen. Die meisten Moral-Philosophen stellen nur die gegenwärtige herrschende Rangordnung dar; Mangel an historischem Sinne einerseits, andrerseits sie werden selber von der Moral beherrscht, welche das Gegenwärtige als das Ewig-Gültige lehrt. Die unbedingte Wichtigkeit, die blinde Selbstsucht, mit der sich jede Moral behandelt, will, daß es nicht viele Moralen geben könne, sie will keine Vergleichung, auch keine Kritik: sondern unbedingten Glauben an sich. Sie ist also im Wesen antiwissenschaftlich—und der vollkommene Moralist müßte schon deshalb unmoralisch sein, jenseits von Gut und Böse.— Aber ist Wissenschaft dann noch möglich? Was ist das Suchen nach Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, wenn nicht etwas Moralisches? Und ohne diese Werthschätzungen und ihre entsprechenden Handlungen: wie wäre Wissenschaft möglich? Die Gewissenhaftigkeit im Wissen weg—wohin ist die Wissenschaft? Ist Scepsis der Moral nicht ein Widerspruch, insofern die höchste Verfeinerung der moralischen Ansprüche hier gerade aktiv ist: sobald der Sceptiker diese feinen Werthabschätzungen des Wahren nicht mehr als maaßgebend fühlt, so hat er keinen Grund mehr zu zweifeln und zu forschen: es müßte denn der Wille zum Wissen noch eine ganz andere Wurzel haben als die Wahrhaftigkeit. —