Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Was ist vornehm? Vorrede zu “Vermischte Meinungen und Sprüche”
— die Sorgfalt im Äußerlichsten, selbst der f[rivole] An[schein], in Wort, Kleid, Haltung, insofern diese Sorgfalt abgrenzt, fern hält, vor Verwechslung schützt.
— die langsame Gebärde, auch der langsame Blick. Es giebt nicht zu viel werthvolle Dinge: und diese kommen und wollen von selbst zu den Werthvollen. Wir bewundern schwer.
— das Ertragen der Armut und der Dürftigkeit, auch der Krankheit.
— das Ausweichen vor kleinen Ehren, und Mißtrauen gegen jeden, welcher leicht lobt: denn der Lobende glaubt daran, daß er verstehe, was er lobe: verstehen aber—Balzac hat es verrathen, dieser typisch-Ehrgeizige—comprendre c’est égaler.
— Unser Zweifel an der Mittheilbarkeit des Herzens geht in die Tiefe; die Einsamkeit, nicht als gewählt, sondern als gegeben,
— die Überzeugung, daß man nur gegen Seines-Gleichen Pflichten hat, gegen die Andern sich nach Gutdünken verhält: daß nur inter pares auf Gerechtigkeit zu hoffen (leider noch lange nicht zu rechnen) ist.
— die Ironie gegen die “Begabten”; der Glaube an den Geburtsadel auch im Sittlichen. “Aristokraten des Geistes”—ist ein Leibwort für Juden.
— immer sich als der fühlen, der Ehren zu vergeben hat: während nicht gar häufig sich Jemand findet, der ihn ehren dürfte.
— immer verkleidet: je höherer Art, um so mehr bedarf der Mensch des incognito. Gott, wenn es einen gäbe, dürfte, schon aus Anstandsgründen, sich nur als Mensch in der Welt bezeigen.
— die Fähigkeit zum otium, die unbedingte Überzeugung, daß ein Handwerk in jedem Sinne zwar nicht schändet, aber sicherlich entadelt. Nicht “Fleiß” im bürgerlichen Sinne, wie hoch wir ihn zu ehren wissen, oder wie jene unersättlich gackernden Künstler, die es wie die Hühner machen—gackern und Eier legen und wieder gackern.
— wir beschützen die Künstler und Dichter und wer irgendworin Meister ist: aber als Wesen, die höherer Art sind, als diese, welche nur etwas können, als die bloß “produktiven Menschen,” verwechselt uns nicht mit ihnen.
— die Lust an den Formen; das In-Schutz-nehmen alles Förmlichen, die Überzeugung, daß Höflichkeit eine der großen Tugenden ist; das Mißtrauen gegen alle Arten des Sichgehenlassen eingerechnet alle Preß- und Denkfreiheit, weil unter ihnen der Geist bequem und tölpelhaft wird und die Glieder streckt.
— das Wohlgefallen an den Frauen, als an einer vielleicht kleineren, aber feineren und leichteren Art von Wesen. Welches Glück, Wesen zu begegnen, die immer Tanz und Thorheit und Putz im Kopfe haben! Sie sind das Entzücken aller sehr gespannten und tiefen Mannsseelen gewesen, deren Leben mit großen Verantwortlichkeiten beschwert ist.
— das Wohlgefallen an den Fürsten und den Priestern, weil sie den Glauben an eine Verschiedenheit der menschlichen Werthe, kurz an die Rangordnung, selbst noch in der Abschätzung der Vergangenheit zum Mindesten symbolisch und im Ganzen und Großen sogar thatsächlich aufrecht erhalten.
— das Schweigen-können: aber darüber kein Wort vor Hörern.
— das Ertragen langer Feindschaften: der Mangel an der leichten Versöhnlichkeit.
— der Ekel am Demagogischen, an der “Aufklärung,” an der “Gemüthlichkeit,” an der pöbelhaften Vertraulichkeit.
— das Sammeln kostbarer Dinge, die Bedürfnisse einer hohen und wählerischen Seele; nichts gemein haben wollen. Seine Bücher, seine Landschaften.
— wir lehnen uns gegen schlimme und gute Erfahrungen auf und verallgemeinern nicht so schnell. Der einzelne Fall: wie ironisch sind wir gegen den einzelnen Fall, wenn er den schlechten Geschmack hat, sich als Regel zu gebärden.
— wir lieben das Naive und die Naiven, aber als Zuschauer und höhere Wesen, wir finden Faust ebenso naiv als sein Gretchen.
— wir schätzen die Guten gering, als Heerdenthiere: und wissen, wie unter den schlimmsten bösartigsten härtesten Menschen oft ein unschätzbarer Goldtropfen von Güte sich verborgen hält, welcher alle bloße Gutartigkeit und Milchseele — — —
— wir halten einen Menschen unserer Art nicht widerlegt weder durch seine Laster, noch durch seine Thorheiten. Wir wissen, daß wir schwer erkennbar sind, und daß wir Alle Gründe haben, uns Vordergründe zu geben.