Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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1) ist der “Philosoph” heute noch möglich? Ist der Umfang des Gewußten zu groß? Ist die Unwahrscheinlichkeit nicht sehr groß, daß er nicht zum Überblick kommt, und zwar je gewissenhafter er ist? Oder zu spät, wenn seine beste Zeit vorbei ist? Oder beschädigt, vergröbert, entartet, so daß sein Werthurtheil nichts mehr bedeutet?— Im andern Fall wird er zum “Dilettanten” mit tausend Fühlhörnerchen und verliert das große Pathos, die Ehrfurcht vor sich selber,—auch das gute feine Gewissen. Genug, er führt nicht mehr, er befiehlt nicht mehr. Wollte er es, so müßte er zum großen Schauspieler werden, zu einer Art von philosophischem Cagliostro.
2) was bedeutet uns heute noch philosophisch leben weise-sein? Ist es nicht fast ein Mittel, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn? Eine Art Flucht? Und wer dergestalt abseits und einfach lebt, ist es wahrscheinlich, daß er damit seiner Erkenntniß den besten Weg gewiesen hat? Müßte er es nicht persönlich mit dem Leben auf 100 Arten versucht haben, um über seinen Werth mitreden zu können? Genug, wir glauben, daß Einer ganz und gar “unphilosophisch,” nach den bisherigen Begriffen, gelebt haben muß, vor allem nicht als scheuer Tugendhafter—um über die großen Probleme aus Erlebnissen heraus zu urtheilen. Der Mensch der umfänglichsten Erlebnisse, der sie zu allgemeinen Schlüssen zusammendrängt: müßte er nicht der mächtigste Mensch sein?— Man hat den Weisen zu lange mit dem wissenschaftlichen, und noch länger mit dem religiös-gehobenen Menschen verwechselt.