Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Man weiß aus den Erfahrungen der Züchter, daß Arten, denen ein Übermaaß von Nahrung und jede Art Sorgfalt und Schutz zu Theil wird, in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an m[onströsen] Lastern) sind. Nun sehe man einmal eine Aristokratie als eine Veranstaltung zum Zweck der Züchtung an: lange Zeit fehlt jenes Übermaaß der günstigen Bedingungen, sie hat Noth, sich überhaupt durchzusetzen, sie hat beständige Gefahr um sich, Furcht festzuhalten. Dazu fühlt sie als nothwendig, daß eine bestimmte Art von Eigenschaften (Tugenden) vor allen und zuoberst erhalten werden muß: sie unterdrückt zu Gunsten dieser Tugenden alle übrigen, sie fühlt diese Tugenden als Existenzbedingungen. Endlich entsteht eine Glückslage, der große Zwang ist nicht mehr nöthig: und sofort tritt, in dem Treibhaus ihrer Cultur, eine ungeheure Menge von Varietäten und Monstren (Genie’s eingerechnet) auf: mitunter geht an deren Kampfe das Gemeinwesen zu Grunde.
Die Art-Varietäten (als Abartung, theilweise Entartung) treten auf, wo günstige Bedingungen des Lebens da sind: die Art selber aber tritt auf, wird fest und stark unter dem langen Kampf mit immer gleichen ungünstigen B[edingungen].
Die Sorge für die Erhaltung der Art, ihrer treuen Wiederholung, ihrer wesentlichen Gleichförmigkeit ist eingegeben durch Liebe für diese Art, Bewunderung derselben durch Vergleichung mit ihrer Umgebung, also Zufriedenheit damit: Grundlage aller Aristokratien, man ist glücklich in seiner Art und will sich selber fortsetzen durch gleiche Nachkommenschaft: aber man muß auf dieser Stellung erhalten werden durch beständig wiederkehrende Gefährdung, und durch den Vergleich mit nahen, niedriger stehenden Wesen. Der Gedanke an einen “Fortschritt” und ebenso der Gedanke an “gleiche Rechte Aller” muß fehlen: Erhaltung des Typus, Genuß aller typischen Züge und sonst Widerwille (auch gegen alles Fremde) möglichst den Vorfahren gleichen als dirigirende Moral: Trauer beim Gedanken der Veränderung und Varietät.
Nun aber giebt es leidende, unterdrückte, halb mißrathende, kranke mit sich unzufriedene Arten: wenn auch sie nach Lehrern, Tröstern und gleichsam Ärzten dürsten, wenn auch sie sich eine Moral schaffen: wonach werden sie am liebsten greifen und verlangen? Vor allem nicht nach Erhaltung ihrer leidenden Art, oder ihrer Zustandes. Sondern “fort davon! Und lieber Irgend wo anders hin!” Im Ganzen wird ihre Moral sich also wie eine Art Selbst-Verneinung ausnehmen: ihre liebste Praxis wird die “Selbstlosigkeit,” der Ekel vor sich, die Abkehr vom Egoistischen—und ihr größter Haß wendet sich gegen die Glücklichen, Stolzen, Siegreichen! Daneben die Entzückungen des Gefühls, welche in der Hingebung, Aufopferung, im Vergessen-seiner-selber, in der Liebe liegen: von der hündischen Schwanzwedelei des Sclaven bis hinauf zur mystischen “Vereinigung mit Gott.” Thatsächlich wird so eine Art von Leidenden und Halbgerathenden im Leben erhalten, und gewissermaaßen lebensfähig gemacht: und indem sie Anpassung an Einander vor allem lernt, entsteht ein niedriger, aber ein lebensfähiger Typus. Zum Beispiel der jetzige Europäer, so wie der Chinese. Die Verkleinerung des Menschen: aber wenn Alle ihre Kräfte zusammenthun, werden sie über die vornehme Rasse Herr: und da diese selber oft von ihren noblen Instinkten her zum Wegwerfen ihrer harten Existenz verführt sind (auch von ihren glückbedürftigen Instinkten), oder selber entartet sind, so daß sie nicht mehr an sich glauben, so geschehen dann z.B. solche großen Thorheiten wie die Vorspiele der französischen Revolution. Dann tritt eine Art Übergewicht der Vielzahl, folglich der geringsten Art Mensch über die Ausgesuchten u[nd] Seltenen ein, ein demokratischer Grund-Geschmack aller Werthschätzung, bei dem zuletzt der Glaube an große Dinge und Menschen sich in Mißtrauen, endlich in Unglauben verwandelt und zur Ursache davon wird, daß das Große ausstirbt.