Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Die Epochisten, die Ephectiker.
Er bleibt gern vor offenen Problemen stehn und ist ironisch gegen die schnellen Hypothesen gestimmt; er lehnt die Art Befriedigung ab, welche das Rund-machen, das Voll-machen, das Ausstopfen eines Lochs mit irgend welchem Werg mit sich bringt. So verhält er sich, nicht aus seiner Schwäche heraus, sondern aus seiner Stärke: er geht nicht gleich zu Grunde, wenn er den Halt solcher “Geländer” entbehrt, welche z. B. heute den Pessimisten als ihre Stütze dienen.— Grundthatsache: daß es in den moralischen Gebieten noch an jeder Wissenschaft fehlt, mehr noch an jedem Materiale zur Wissenschaft. Die praktischen Hinter-Absichten unterbinden dem Forscher die Adern. Es ist die Zeit für das Suchen der allerweitesten regulativen Hypothesen, um an ihnen Material zu sammeln.
Also ist hier noch lange nicht eigentliche strenge Ephexis der Wissenschaft möglich; wir sind im Vorstadium. Die Verschärfung der methodischen Ansprüche wird später kommen. Die Wissenschaften entwickeln sich keineswegs gleichzeitig: sondern wie die Organe ihr schnelleres oder langsameres Wachsthum, Reifwerden haben, so steht es hier. Es liegt auf der Hand, daß die Wissenschaft, welche am weitesten zurück sein wird, die ist, welcher man am längsten widerstrebt hat, mit dem Glauben, hier dürfe gar nicht geforscht werden. Hier sei die Wahrheit da, hier sei der Glaube an sie Pflicht—noch jetzt bäumt sich das “moralische Bewußtsein” mitunter selbst im Gewande einer Art “Philosophie” gegen das Recht einer Analysis der Moral auf. Und unsere letzten Moralforscher sind gründlich eben davon überzeugt: hier habe die Wissenschaft nur den Thatbestand zu ergründen, nicht zu kritisiren.