Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Vorrede.
Es liegt mir heute wenig daran, ob ich in Bezug auf R[ichard] W[agner] und Schopenhauer Recht oder Unrecht gehabt habe: habe ich mich geirrt, nun, mein Irrthum gereicht weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre. Gewiß ist es, daß es mir, in jenen jungen Tagen, eine ungeheure Wohlthat war, meine idealischen Farben, in welchen ich die Bilder [des] Philosophen und [des] Künstlers schaute, nicht ganz ins Unwirkliche, sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können; und wenn man mir den Vorwurf gemacht hat, daß ich die Genannten mit einem vergrößernden Auge gesehen habe, so freue ich mich dieses Vorwurfs—und meiner Augen noch dazu. Zum Mindesten sollte der Leser der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung nicht darüber im Ungewissen sein, wie wenig mir immer an der Wahrheit gelegen hat und — — —
Was ich damals geschrieben—und weniger geschrieben als gemalt habe, noch dazu hitzig und, wie mich heute dünkt, in einem nicht unbedenklichen und verwegenen Alfresco: das würde dadurch noch nicht wahrer werden, daß ich es nunmehr, wo vielleicht Hand und Auge etwas hinzugelernt haben, noch einmal zarter, bunter und strenger darstellte. Jedes Lebensalter versteht “Wahrheit” auf seine eigene Weise; und wer mit jungen und brausenden Sinnen und großen Ansprüchen vor jene Gemälde tritt, wird an ihnen so viel Wahrheit finden, als er zu sehn im Stande ist.
Meine vier ersten U[nzeitgemäßen] B[etrachtungen], denen ich nunmehr, nach zehn Jahren, eine fünfte, sechste und siebente zugeselle, waren Versuche, die Art Menschen an mich heranzulocken, welche zu mir gehören: also Angelruthen, ausgeworfen nach “Meines-Gleichen.” Damals war ich jung genug, um mit ungeduldiger Hoffnung auf einen solchen Fischfang zu gehen. Heute—nach hundert Jahren, wenn ich die Zeit nach meinem Maaße messen darf!— bin ich immer noch nicht alt genug, um jede Hoffnung, jede Geduld verloren zu haben. Wie fremd klingt es mir auch heute noch in den Ohren, wenn ein Greis seine Erfahrung in diese Worte drängt: — — —
So spricht Goethe: sollte er Recht haben? Wie wenig Vernunft hätte es dann, so alt u[nd] so vernünftig wie Goethe zu werden! Und es wäre billig, wie die Griechen ihr Urtheil über das Alter abzulernen:—sie haßten das Altwerden mehr als den Tod, und liebten es zu sterben, wenn sie fühlten, daß sie auf jene Art anfiengen vernünftig zu werden. Inzwischen hat auch die Jugend ihre eigne Art Vernunft: eine Vernunft, welche an Leben, Liebe und Hoffnung glaubt