Mai-Juli 1885 35 [1-84]
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Nichts Kläglicheres als die moralistische Litteratur im jetzigen Europa. Die utilitarischen Engländer voran, plump wie Hornvieh in den Fußtapfen Bentham’s wandelnd, wie er selber schon in den Fußtapfen des Helvetius wandelte; kein neuer Gedanke, nicht einmal eine wirkliche Historie des Früher-Gedachten, sondern immer die alte moral[ische] Tartüfferie, das englische Laster des cant unter der neuen Form der Wissenschaftlichkeit nebst geheimer Abwehr von Gewissensbissen, wie sie eine Rasse von ehemaligen Puritanern anzufallen pflegen.— Sie möchten sich um jeden Preis überreden, daß man dem eignen Nutzen nachgehen müsse, insofern gerade damit dem allgemeinen Nutzen, dem Glück der Meisten, am besten gedient werde: also daß das Streben nach englischem “Glück,” ich meine nach comfort und fashion auf dem rechten Pfade der Tugend sei: ja daß, so weit es in der Welt Tugend gegeben habe, sie im derartigen Streben nach eignem, folglich auch allgemeinem Glück bestanden habe: Niemand von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerden-Thieren—denn das sind sie allesammt—will etwas davon wissen, daß es eine Rangordnung der Menschen giebt, folglich Eine Moral für Alle eine Beeinträchtigung der höchsten Menschen ist, daß, was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Anderen es sein kann; daß vielmehr das “Glück der Meisten” für Jeden ein Ideal zum Erbrechen ist, [der] die Auszeichnung hat, nicht zu den Meisten zu gehören.— Von Frankreich her ist neuerdings noch die oberflächliche Gegenüberstellung Comte’s vom Altruismus und Egoismus—aber es giebt gar keinen Altruismus!—nach England gedrungen; und nun sehen wir z. B. bei Herbert Spencer den Versuch, auch damit wieder sich zu vertragen, mit einem solchen schlechten Willen, irgend einen Begriff noch streng zu nehmen, daß nunmehr Urin-lassen in England bereits schon unter die altruistischen Thätigkeiten gehören dürfte. In Deutschland—wo man noch nicht einmal mit der moralistischen Naivetät Schopenhauer’s fertig zu werden versteht, hat E[duard]. von H[artmann, Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins. Prolegemena zu jeder zukünftigen Ethik. Berlin: 1879.] neuerdings den Comte’schen Gedanken ins Breite getreten—in die Breite von 871 Seiten—; und, ohne daß irgend ein Deutscher darüber gelacht hat, vorne den Egoismus feierlich und förmlich zur Thür hinausgeworfen, um ihn hinten, im Namen des “Altruismus,” wieder hereinzunöthigen. In der That, man kann sich die unheimliche Thatsache einer fast plötzlichen Verdummung der Völker Europa’s—sichtbar so gut im jetzigen Deutschland und England, wie in Frankreich und Italien—nicht besser sich zu Gemüthe führen als durch ein Blättern in ihren moralistischen Büchern. Ich wüßte höchstens 3 kleine Schriften herauszuheben (obwohl auch in diesen nichts Fundamentales gesagt ist):
Einmal das Buch [Vgl. Paul Rée, Der Ursprung der moralischen Empfindungen. Chemnitz: Schmeitzner, 1877.] eines deutschen Juden, Paul Rée, das den Titel führt—Es verdient seiner Form wegen Auszeichnung und trägt etwas von jenem ächt-philosophischen habitus an sich, dem Stendhal einmal einen scharfen Ausdruck gegeben hat: — — — Rée nimmt mit feiner Hand die strengeren Geschmacks-Gewohnheiten der alten französischen Moralisten wieder auf—sein Buch kommt wie ein erquicklicher Geruch aus jener “guten alten Zeit,” fern von allen erbaulichen Hinterabsichten, nach welchen deutsch geschriebene Moral-Bücher zu riechen pflegen—: leider hat er auch dieselben Mängel, wie jene Franzosen, den engen Horizont, die Armseligkeit des Wissens; seine Hypothesen sind wohlfeil und in den Wind geredet; es fehlt ihm gänzlich “der historische Blick und Takt,” das will sagen, die eigentliche und einzige Tugend, welche die deutsche Wissenschaft des 19. Jahrhunderts vor allen älteren Wissenschaften voraus hat. Zuletzt ist es ein Buch, welches “Appetit macht.”
Zweitens nenne ich das feine, schwermüthig-herzhafte Buch eines Franzosen [Jean-Marie Guyau: .Esquisse d'une morale sans obligation ni sanction. Paris: 1885.] — — —, welches freilich, wie fast Alles, was jetzt aus Paris kommt, zum Übermaaß zu verstehen giebt, wo eigentlich heute der Pessimismus zu Hause ist: (nämlich nicht in Deutschland) Und was hilft aller Positivismus und das entschlossene Kniebeugen vor den “petits faits”! Man leidet in Paris wie an kalten Herbstwinden, wie an einem Frost großer Enttäuschungen, als ob der Winter kommt, der letzte, endgültige Winter—und die Besten und Tapfersten, wie jener brave Guyau, [zittern und schaudern dabei, auch wenn sie eine noch so gute Miene zu ihrem “positivisme” machen: wer glaubt es ihnen, wozu sie uns mit Ironie überreden möchten, daß jenes Zittern und Schaudern noch zu den Reizen und Verführungskünsten des Lebens gehöre? Freilich: “das Schaudern ist der Menschheit schönster Theil”—das hat Goethe gesagt, und Goethe—durfte es sagen! Aber ein Pariser?— Endlich zeichne ich die polemische Schrift eines deutschen Halb-Engländers aus, welche genug Geist, Säure und Wissenschaft enthält, um jene Vereinigung von bêtise und Darwinismus, welche Herbert Spencer unter dem Titel: “Data of Ethics” in die Welt gesetzt hat, gründlich zu “zersetzen”: [William Henry] Rolph, Biologische Probleme 1881. Freilich, vom Polemischen abgesehen ist an dem Buche nichts zu loben; und im Grunde beleidigt hier, ebenso wie bei dem Buche, welches er bekämpft, das Mitreden-wollen unbedeutender Menschen auf Gebieten, wo nur eine ausgesuchte Art von Erkennenden und “Erlebten” ohne Unbescheidenheit zu Worte kommt.]