November 1887 - März 1888 11 [201-300]
11 [226]
1.
Daß die Menschheit eine Gesammt-Aufgabe zu lösen habe, daß sie als Ganzes irgend einem Ziel entgegenlaufe, diese sehr unklare und willkürliche Vorstellung ist noch sehr jung. Vielleicht wird man sie wieder los, bevor sie eine “fixe Idee” wird ... Sie ist kein Ganzes, diese Menschheit: sie ist eine unlösbare Vielheit von aufsteigenden und niedersteigenden Lebensprozessen—sie hat nicht eine Jugend und darauf eine Reife und endlich ein Alter. Nämlich die Schichten liegen durcheinander und übereinander—und in einigen Jahrtausenden kann es immer noch jüngere Typen Mensch geben, als wir sie heute nachweisen können. Die décadence andererseits gehört zu allen Epochen der Menschheit: überall giebt es Auswurf- und Verfall-Stoffe, es ist ein Lebensprozeß selbst, das Ausscheiden der Niedergangs- und Abfalls-Gebilde.
2.
Unter der Gewalt des christlichen Vorurtheils gab es diese Frage gar nicht: der Sinn lag in der Errettung der einzelnen Seele; das Mehr oder Weniger in der Dauer der Menschheit kam nicht in Betracht. Die besten Christen wünschten, daß es möglichst bald ein Ende habe:—über das, was dem Einzelnen noth thue, gab es keinen Zweifel ... Die Aufgabe stellte sich jetzt für jeden Einzelnen, wie in irgend welcher Zukunft für einen Zukünftigen: der Werth, Sinn, Umkreis der Werthe war fest, unbedingt, ewig, Eins mit Gott ... Das, was von diesem ewigen Typus abwich, war sündlich, teuflisch, verurtheilt ...
Das Schwergewicht des Werthes lag für jede Seele in sich selber: Heil oder Verdammniß! Das Heil der ewigen Seele! Extremste Form der Verselbstung ... Für jede Seele gab es nur Eine Vervollkommnung; nur Ein Ideal; nur Einen Weg zur Erlösung ... Extremste Form der Gleichberechtigung, angeknüpft an eine optische Vergrößerung der eigenen Wichtigkeit bis ins Unsinnige ... Lauter unsinnig wichtige Seelen, um sich selbst mit entsetzlicher Angst gedreht ...
3.
Nun glaubt kein Mensch mehr an diese absurde Wichtigthuerei: und wir haben unsere Weisheit durch ein Sieb der Verachtung geseiht. Trotzdem bleibt unerschüttert die optische Gewöhnung, einen Werth des Menschen in der Annäherung an einen idealen Menschen zu suchen: man hält im Grunde sowohl die Verselbstungs-Perspektive als die Gleichberechtigung vor dem Ideal aufrecht. In summa: man glaubt zu wissen, was, in Hinsicht auf den idealen Menschen, die letzte Wünschbarkeit ist ...
Dieser Glaube ist aber nur die Folge einer ungeheuren Verwöhnung durch das christliche Ideal: als welches man, bei jeder vorsichtigen Prüfung des “idealen Typus,” sofort wieder herauszieht. Man glaubt, erstens, zu wissen, daß die Annäherung an Einen Typus wünschbar ist; zweitens zu wissen, welcher Art dieser Typus ist; drittens daß jede Abweichung von diesem Typus ein Rückgang, eine Hemmung, ein Kraft- und Machtverlust des Menschen ist ... Zustände träumen, wo dieser vollkommene Mensch die ungeheure Zahlen-Majorität für sich hat: höher haben es auch unsere Socialisten, selbst die Herren Utilitarier, nicht gebracht.— Damit scheint ein Ziel in die Entwicklung der Menschheit zu kommen: jedenfalls ist der Glaube an einen Fortschritt zum Ideal die einzige Form, in der eine Art Ziel in der Menschheits-Geschichte heute gedacht wird. In summa: man hat die Ankunft des “Reichs Gottes” in die Zukunft verlegt, auf die Erde, in’s Menschliche,—aber man hat im Grunde den Glauben an das alte Ideal festgehalten ...