November 1887 - März 1888 11 [201-300]
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Journal des Goncourt I.
“ein Gott à l’américaine, der Gott auf eine ganz menschliche Weise ist, der Brille trägt, über den es Zeugnisse der kleinen Zeitungen giebt”—ein Gott in Photographie —
... sie verlangt Neuigkeiten über Ihre Seele “sind Sie im Zustand der Gnade?,” wie als ob sie fragte: “haben Sie Schnupfen?”
Joubert: in seinen Gedanken fehlt die französische Bestimmtheit. Das ist weder klar noch franc. Das riecht nach der kleinen Genfer Schule: Mad. Necker, Tracy, Jouffroy. Der schlechte Sainte-Beuve kommt von da. Joubert dreht die Ideen, wie man du buis dreht.
— man hat von Zeit zu Zeit das Bedürfniß d’un encanaillement de l’esprit
— es fehlt der breite Pinsel in seinem Gespräch; lauter hübsche, kleine, schüchterne Dinge (von Sainte-Beuve)
— haben die Alten nach einer schönen Realität gearbeitet? waren sie vielleicht gar keine “Idealisten”?
— sie suchen eine Null, um ihren Werth zu verzehnfachen
— in früher Jugend, wenn die ganze Lebhaftigkeit der Expansion durch große Einsamkeit zurücktritt
— “man fühlt sich in einer Synagoge wie im Orient, in einer glücklichen Religion. Eine Art Familiarität mit Gott, kein Gebet, wie in der christlichen Kirche, wo man immer etwas vergeben haben will ...
Die “4 Syndics” von Rembrandt; die Marter des Heiligen Marc von Tintoretto—die schönsten Bilder der Welt für die Goncourt.
Der englische Comfort ein wunderbares Verständniß für das leibliche Wohl, aber von einer Art Glück, wie es Blinde brauchen können: das Auge findet darin keine Genüge.
NB: rien de si mal écrit qu’un beau discours.
In Salammbô kommt Flaubert zum Vorschein, geschwollen, deklamatorisch, melodramatisch, verliebt in die dicke Farbe
— der Einzige, der den Fund einer Sprache gemacht hat, mit der man von den alten Zeiten sprechen kann: Maurice de Guérin im “Centaur”
— das Volk liebt weder das Wahre, noch das Einfache: es liebt den Roman und den Charlatan.
Es ist sehr merkwürdig, daß die vier Männer les plus purs de tout métier et de tout industrialisme, les quatre plumes les plus entièrement vouées à l’art gerade vor die Banken der police correctionelle gekommen sind: Baudelaire, Flaubert und les Goncourt.
Wir haben alle Verkehrsmittel verzehnfacht in der Geschwindigkeit: zugleich aber das Bedürfniß nach Schnelligkeit in uns verhundertfacht ...
Je hais tout ce qui est coeur imprimé, mis sur du papier. Gavarni.
Eine Corruption alter Civilisationen, nur noch an Werken des Menschen Vergnügen zu empfinden und à s’embêter des oeuvres de Dieu.
wir sind le siècle des chefs-d’oeuvre de l’irrespect.
das Glück im Licht von Algier, die schmeichlerische Art Licht: wie man Heiterkeit athmet ...
Die französische mél contemporaine, une mélancolie non suicidante, non blasphématrice, non désespérée: une tristesse, qui n’est pas sans douceur et où rit un coin d’ironie. Melancholien Hamlet, Lara, Werther, René selbst sind die Melancholien von nördlicheren Völkern als wir sind.
Der Typus von 1830: energische Züge, milder Ausdruck, ein weiches Lächeln, das euch streichelt; gewöhnt an die Schlacht, an noble Kämpfe, an glühende Sympathien, an die laute Zustimmung eines jungen Publikums; und dabei im Grund von sich die Trauer und die Reue tragend, nicht zu trösten, zerrissenen Herzens; die politischen Ideen von 1848 haben ihn einen Augenblick wieder in Fieber gesetzt. Seitdem die Langeweile und die Nichtbeschäftigung seiner Gedanken und Aspirationen. Ein distinguirter Geist, an einem friedlichen Heimweh nach einem Ideal in Politik, Litteratur, Kunst leidend, sich mit halber Stimme beklagend und nur an sich selbst sich rächend für die Vision der unvollkommenheit der Dinge hier unten.
Im modernen Gesetzbuch, im Code ist die Ehre ebenso vergessen wie la fortune. Pas un mot de l’arbitrage de l’honneur: das Duell usw. Was die fortune von heute betrifft, qui est presque toute in Börsenoperationen de bourse, de courtage, d’agiotage, de coulisse ou d’agences de change, so ist nichts vorgesehen, es zu schützen und zu vertheidigen: keine Reglementation de ces trafics journaliers; die Tribunale incompetent für alle Börsen-Transaktionen; der Wechselagent giebt kein reçu.
La Bruyère: “on peut se servir des coquins, mais l’usage en doit être discret.”
Wie hat man den Muth, zu einem Theater-Publikum zu sprechen? Das Stück wird abgeschätzt durch eine masse d’humanité réunie, une bêtise agglomérée ... (Vom Buche nimmt man in der Einsamkeit Kenntniß—)
“Wenn man gut ist, so erscheint man feige: man muß böse sein, damit man für muthig gilt”: ein Thema für Napoleon III
“Vor einer guten Landschaft fühle ich mich mehr à la campagne als auf freiem Feld und im vollen Walde” Wir sind zu civilisirt, zu alt, zu sehr verliebt in das factice und artificiel, daß wir durch das Grüne der Erde und Blaue des Himmels amüsirt würden.
Flaubert insgleichen: horreur auf dem Rigi.
Litteratur des 20. Jahrhunderts: verrückt und mathematisch zugleich, analytisch-phantastisch: die Dinge wichtiger und im Vordergrund, nicht mehr die Wesen; die Liebe abgeschafft (schon bei Balzac tritt das Geld in den Vordergrund): mehr von der Geschichte im Kopfe erzählend als von der im Herzen.
Ces désespérances, ces doutes, non de nous, ni de nos ambitions, mais du moment et des moyens, au lieu de nous abais servers les concessions, font en nous, plus entière, plus intraitable, plus hérissée, la conscience littéraire. Et, un instant, nous agitons si nous ne devrions pas penser et écrire absolument pour nous, laissant à d’autres le bruit, l’éditeur, le public. Mais, comme dit Gavarni: on n’est pas parfait.
Journal des Goncourt I, p. 147.
das Café ein rudimentärer Zustand: für 40 ct. Heiterkeit, mit einem Gas vielleicht (gas exhilarant): une demi-tasse de paradis
Gavami: das ist grausam, aber so ist es, ich habe nicht für zwei sous vénération in mir. (wohl aber sensitivité—)
Flaubert: de la form naît l’idée, höchste Formel der Schule, nach Théophile Gautier
il faut à des hommes comme nous, une femme peu élevée, peu éduquée, qui ne soit que gaieté et esprit naturel, parce que celle-là nous réjouira et nous charmera ainsi qu’un agréable animal, auquel nous pourrons nous attacher.
Die Zeit, wo alle Männer lesen und alle Frauen Piano spielen werden, wird die Welt in voller Auflösung sein; sie hat ein Wort aus dem Testament des Cardinal de Richelieu vergessen: “ainsi qu’un corps qui auroit des yeux en toutes ses parties, seroit monstrueux, de même un État le seroit, si tout le sujets étoient savants. On y verroit aussi peu d’obéissance que l’orgueil et la présomption y seroient ordinaires.”
Kein Maler mehr. Eine Armee von chercheurs d’idées ingénieuses. De l’esprit, non de touche, mais dans le choix du sujet. Litteratur des Pinsels.
Raphael hat den klass Typus der Jungfrau gefunden durch die Vollendung des vulgären Typus—durch den absoluten Gegensatz zur Schönheit, wie sie le Vinci suchte in dem Exquisen des Typus und der Seltenheit des Ausdrucks. Eine Art ganz menschlicher Heiterkeit, eine runde Schönheit, eine fast junonische Gesundheit. Sie wird ewig populär bleiben.
Voltaire der letzte Geist des alten Frankreich, Diderot der erste des neuen. Voltaire hat das Epos, die Fabel, die kleinen vers, die Tragödie zu Grabe getragen. Diderot hat den modernen Roman, das Drama und die Kunstkritik inaugurirt.
Skeptiker sein, den Skepticismus bekennen—ein schlechter Weg, seinen Weg zu machen! Das Mittel der Skepsis ist die Ironie, die Formel die am wenigsten aux épais, aux obtus, aux sots, aux niais, aux masses zugänglich ist? Dann choquirt diese Negation, dieser Zweifel an Allem, die Illusionen Aller, zum mindesten, die, welche alle affichiren: die Selbstzufriedenheit der Menschheit mit sich, welche die Zufriedenheit mit sich voraussetzt,—diesen Frieden des menschlichen Gewissens, welchen der bourgeois affektirt wie den Frieden seines persönlichen Gewissens auszugeben. —
Im Grunde dieses metaphysischen Monologs fühle ich die Präoccupation—“la préoccupation et la terreur du au-delà de la mort, que donne aux esprits les plus émancipés l’éducation religieuse.”
Der Mann hat das Weib gemacht, indem er ihr alle seine Poesien giebt ... Gavarni
Bei Clowns und Seiltänzern ihr Metier ihre Pflicht: die einzigen Akteure, deren Talent unbestritten und absolut ist, wie das der Mathematiker oder mehr noch comme le saut périlleux. Denn hierbei giebt es keinen falschen Anschein von Talent: entweder fällt man oder man fällt nicht.
Rien de plus charmant, de plus exquis que l’esprit français des étrangers, l’esprit de Galiani, du prince de Ligne, de Henri Heine.
Flaubert: “après tout, le travail, c’est encore le meilleur moyen d’escamoter la vie.”
Das, was bei Victor Hugo frappirt, der die Ambition hat, für einen Denker gelten zu wollen: das ist die Abwesenheit des Gedankens. Das ist kein Denker, das ist ein Naturwesen (un naturaliste sagt Flaubert): er hat den Saft der Bäume in den Adern —
De l’amoureux à la mode. 1830 le ténébreux, nach dem Einfluß Antony’s. Der dominirende Schauspieler giebt den Ton für die Verführung in der Liebe an. 1860 ist es der farceur (nach dem Vorbilde Grassot)
Es giebt keine Arme mehr für die Landarbeit. Die Erziehung zerstört die Rasse der Arbeiter und folglich den Ackerbau ...
wahre Freiheit für das Individuum giebt es nur, so lange es noch nicht in eine vollkommen civilisirte Gesellschaft enrégimenté ist: in ihr verliert es den ganzen Besitz von sich, von seinen Gütern, von seinem Guten. Der Staat hat, von 1789 an, teufelsmäßig die Rechte von jedem absorbirt, und ich frage mich, ob nicht, unter dem Namen der vollkommenen Herrschaft des Staates, uns die Zukunft noch eine ganz andere Tyrannei vorbehält, servi par le despotisme d’une bureaucratie française —