November 1887 - März 1888 11 [201-300]
11 [295]
Das Christenthum hat von vornherein das Symbolische in Cruditäten umgesetzt:
| 1) | der Gegensatz “wahres Leben” und “falsches” Leben: mißverstanden als “Leben diesseits” und “Leben jenseits” |
| 2) | der Begriff “ewiges Leben” im Gegensatz zum Personal-Leben der Vergänglichkeit als “Personal-Unsterblichkeit” |
| 3) | die Verbrüderung durch gemeinsamen Genuß von Speise und Trank nach hebräisch-arabischer Gewohnheit als “Wunder der Transsubstantiation” |
| 4) | die “Auferstehung”—als Eintritt in das “wahre Leben,” als “Wiedergeboren”—daraus: eine historische Eventualität, die irgendwann nach dem Tode eintritt |
| 5) | die Lehre vom Menschensohn als dem “Sohn Gottes,” das Lebens-Verhältniß zwischen Mensch und Gott—daraus: die “zweite Person der Gottheit”—gerade das weggeschafft: das Sohnverhältniß jedes Menschen zu Gott, auch des niedrigsten |
| 6) | die Erlösung durch den Glauben, nämlich daß es keinen anderen Weg zur Sohnschaft Gottes giebt als die von Christus gelehrte Praxis des Lebens—umgekehrt in den Glauben, daß man an irgend eine wunderbare Abzahlung der Sünde zu glauben habe, welche nicht durch den Menschen sondern durch die That Christi bewerkstelligt ist |
| : damit mußte “Christus am Kreuze” neu gedeutet werden. |
Dieser Tod war an sich durchaus nicht die Hauptsache ... es war nur ein Zeichen mehr, wie man sich gegen die Obrigkeit, und Gesetze der Welt zu verhalten habe—nicht sich wehrend ... Darin lag das Vorbild.
Das Christenthum nimmt den Kampf nur auf, der schon gegen das klassische Ideal, gegen die vornehme Religion bestand
Thatsächlich ist diese ganze Umbildung eine übersetzung in die Bedürfnisse und das Verständniß-Niveau der damaligen religiösen Masse: jener Masse, welche an Isis, Mithras, Dionysos, die “große Mutter” glaubte und welche von einer Religion verlangte
| 1) | die Jenseits-Hoffnung |
| 2) | die blutige Phantasmagorie des Opferthiers “das Mysterium” |
| 3) | die erlösende That, die heilige Legende |
| 4) | den Asketismus, die Weltverneinung, die abergläubische “Reinigung” |
| 5) | eine Hierarchie, eine Form der Gemeindebildung |
kurz: das Christenthum paßt sich an das schon bestehende überall eingewachsene Anti-Heidenthum an, an die Culte, welche von Epicur bekämpft worden sind ... genauer, an die Religionen der niederen Masse der Frauen, der Sklaven, der nicht-vornehmen Stände.
Wir haben also als Mißverständniß:
| 1) | die Unsterblichkeit der Person |
| 2) | die angebliche andere Welt |
| 3) | die Absurdität des Strafbegriffs und Sühnebegriffs im Centrum der Daseins-Interpretation |
| 4) | die Entgöttlichung des Menschen statt seiner Vergöttlichung die Aufreißung der tiefsten Kluft, über die nur das Wunder, nur die Prostration der tiefsten Selbstverachtung hinweghilft |
| 5) | die ganze Welt der verdorbenen Imagination und des krankhaften Affekts, statt der liebevollen einfältigen Praxis, statt eines auf Erden erreichbaren buddhistischen Glückes ... |
| 6) | eine kirchliche Ordnung, mit Priesterschaft, Theologie, Cultus, Sakramenten; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte |
| 7) | das Wunder in Allem und Jedem, der Aberglaube: während gerade das Auszeichnende des Judenthums und des ältesten Christenthums sein Widerwille gegen die Wunder ist, seine relative Rationalität |