November 1887 - März 1888 11 [201-300]
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NB. Man kann nicht genug Achtung vor dem Menschen haben, sobald man ihn darauf hin ansieht, wie er sich durchzuschlagen, auszuhalten, die Umstände sich zu Nutze zu machen, Widersacher niederzuwerfen versteht; sieht man dagegen auf den Menschen, so fern er wünscht, ist er die absurdeste Bestie ... Es ist gleichsam, als ob er einen Tummelplatz der Feigheit, Faulheit, Schwächlichkeit, Süßlichkeit, Unterthänigkeit zur Erholung für seine starken und männlichen Tugenden brauchte: siehe die menschlichen Wünschbarkeiten, seine “Ideale.” Der wünschende Mensch erholt sich von dem Ewig-Werthvollen an ihm, von seinem Thun: im Nichtigen, Absurden, Werthlosen, Kindischen. Die geistige Armut und Erfindungslosigkeit ist bei diesem so erfinderischen und auskunftsreichen Thier erschrecklich. Das “Ideal” ist gleichsam die Buße, die der Mensch zahlt, für den ungeheuren Aufwand, den er in allen wirklichen und dringlichen Aufgaben zu bestreiten hat. Hört die Realität auf, so kommt der Traum, die Ermüdung, die Schwäche: “das Ideal” ist geradezu eine Form von Traum, Ermüdung, Schwäche ... Die stärksten und ohnmächtigsten Naturen werden sich gleich, wenn dieser Zustand über sie kommt: sie vergöttlichen das Aufhören der Arbeit, des Kampfes, der Leidenschaften, der Spannung, der Gegensätze, der “Realität” in summa ... des Ringens um Erkenntniß, der Mühe der Erkenntniß
Unschuld: so heißen sie den Idealzustand der Verdummung
Seligkeit: den Idealzustand der Faulheit
Liebe: den Idealzustand des Heerdenthiers, das keinen Feind mehr haben will
damit hat man alles, was den Menschen erniedrigt und herunterbringt, ins Ideal erhoben.