November 1887 - März 1888 11 [201-300]
11 [297]
Die halbseitige Tüchtigkeit: oder der gute Mensch.
Einem Versuche, von der Gottheit alle “bösen” Eigenschaften und Absichten wegzudenken, entspricht ein Versuch, den Menschen auf die Hälfte zu reduziren, welche seine guten Eigenschaften ausmachen: er soll unter keinen Umständen schaden, schaden wollen ...
Der Weg dazu: die Verschneidung der Möglichkeit zur Feindschaft, die Entwurzelung des ressentiment, der Frieden als der einzige und einzig gebilligte innere Zustand ...
Der Ausgangspunkt ist völlig ideologisch: man hat “Gut” und “Böse” als Widerspruch angesetzt, man hält es nunmehr für folgerichtig, daß der Gute “dem Bösen” bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt, man meint damit, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke zurückzukehren und seiner eigenen inneren Anarchie und Selbstauflösung zwischen entgegengesetzten Werth-Antrieben ein Ende zu machen.
Aber: man hält den Krieg für böse—und führt doch Krieg! ... Mit anderen Worten: man hört jetzt erst recht nicht auf, zu hassen, Nein zu sagen, Nein zu thun: der Christ z.B. haßt die Sünde (nicht den Sünder: wie sie fromme List auseinanderhält) — Und gerade durch diese falsche Trennung “gut” und “böse” ist die Welt des Hassenswerthen, Ewig-zu-Bekämpfenden ungeheuer angewachsen. In praxi sieht “der Gute” sich umringt vom Bösen, sieht in allem Thun Böses—er endet damit, die Natur für böse, den Menschen für verdorben, das Gutsein als Gnade zu verstehn.
— So entsteht ein mit Haß und Verachtung überladener Typus, der sich aber die Mittel abgeschnitten hat, Krieg in der That und mit Waffen zu führen: eine wurmstichige Art von “Auserwählten,” Friedensaposteln
I. Der vollkommene “Hornochs.”
Der stoische Typus. Oder: der vollkommene Hornochs. Die Festigkeit, die Selbstbeherrschung, das Unerschütterliche, der Frieden als Unbeugsamkeit eines langen Willens—die tiefe Ruhe, der Vertheidigungszustand, der Berg, das kriegerische Mißtrauen—die Festigkeit der Grundsätze; die Einheit von Willen und Wissen die Hochachtung vor sich. Einsiedler-Typus.
Der consequente Typus: hier wird begriffen, daß man auch das Böse nicht hassen dürfe, daß man ihm nicht widerstehen dürfe, daß man auch nicht gegen sich selbst Krieg führen dürfe: daß man das Leiden, welches eine solche Praxis mit sich bringt, nicht nur hinnimmt; daß man ganz und gar in den positiven Gefühlen lebt; daß man die Partei der Gegner nimmt in Wort und That; daß man durch eine Superfötation der friedlichen, gütigen, versöhnlichen, hülf- und liebreichen Zustände den Boden der anderen Zustände verarmt ..., daß man eine fortwährende Praxis nöthig hat
was ist hier erreicht?— Der buddhistische Typus: oder die vollkommene Kuh
Dieser Standpunkt ist nur möglich, wenn kein moralischer Fanatismus herrscht d.h. wenn das Böse nicht um seiner selber willen gehaßt wird, sondern nur, weil es den Weg abgiebt zu Zuständen, welche uns wehe thun (Unruhe, Arbeit, Sorge, Verwicklung, Abhängigkeit.)
Dies der buddhistische Standpunkt: hier wird nicht die Sünde gehaßt, hier fehlt der Begriff “Sünde.”
II.
Der inconsequente Typus: man führt Krieg gegen das Böse—man glaubt, daß der Krieg um des Guten willen nicht die moralische und Charakter-Consequenz habe, die sonst der Krieg mit sich bringt (und derentwegen man ihn als böse verabscheut) Thatsächlich verdirbt ein solcher Krieg gegen das Böse viel gründlicher als irgend eine Feindseligkeit von Person zu Person; und gewöhnlich schiebt sich sogar “die Person” als Gegner wenigstens imaginär wieder ein (der Teufel, die bösen Geister usw.) Das feindselige Verhalten, Beobachten, Spioniren gegen alles, was in uns schlimm ist und schlimmen Ursprungs sein könnte, endet mit der gequältesten und unruhigsten Verfassung: so daß jetzt “Wunder,” Lohn, Ekstase, Jenseitigkeits-Lösung wünschbar werden ...
Der christliche Typus: oder der vollkommene Mucker.