Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich!
Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder—diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten.
Oberflächen Formen.
Kunst enthält die Freude, durch Oberflächen Glauben zu erwecken: aber man wird ja nicht getäuscht? Dann hörte ja die Kunst auf!
Die Kunst legt es doch auf eine Täuschung ab—aber wir werden nicht getäuscht?
Woher die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird?
Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.
Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar nicht anregt.
Nur der, der die ganze Welt als Schein betrachten könnte, wäre im Stande, sie begierden- und trieblos anzusehen—Künstler und Philosoph. Hier hört der Trieb auf.
So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will Lust und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.
Die Welt als Schein—Heiliger Künstler Philosoph.