Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Hartmann ist wichtig, weil er den Gedanken eines Weltprozesses todtmacht, dadurch dass er consequent ist. Um ihn zu ertragen, legt er als zu Grunde die bewusste Erlösung und Freiheit von Illusionen und das Wählen des Unterganges. Aber das Ende der Menschheit kann jeden Augenblick durch eine geologische Umwälzung da sein: und jene Illusionslosigkeit setzte eine höhere Entwicklung der moralischen und intellectuellen Kräfte voraus: was ganz unwahrscheinlich ist: vielmehr dürften, wenn diese alt würden, die Illusionen nur immer mächtiger werden und das Greisenalter mit einem Kindisch-werden schliessen. Tröstlich ist somit das letzte Resultat keinesfalls und könnte gewiss nicht als bezeichnet werden. So wie er das Mannesalter schildert, nimmt überdies die Fähigkeit, das Dasein als Problem zu nehmen, immer mehr ab und das Bedürfniss nach Erlösung wird immer geringer. Wir wollen uns ja aller Constructionen der Menschheitsgeschichte enthalten und überhaupt nicht die Massen betrachten, sondern die überall hin zerstreuten Einzelnen: diese bilden eine Brücke über den wüsten Strom. Diese setzen nicht etwa einen Prozess fort; sondern sie leben gemeinsam und gleichzeitig, Dank der Geschichte, die ein solches Zusammenwirken zulässt.
Es ist die “Genialen-Republik.” Die Aufgabe der Geschichte ist, zwischen ihnen zu vermitteln und so immer wieder zur Erzeugung des Grossen und Schönen Anlass zu geben und Kraft zu verleihen. Das Ziel der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern in den höchsten Exemplaren, die, zerstreut durch Jahrtausende, zusammen alle höchsten Kräfte, die in der Menschheit verborgen sind, repräsentiren.
Überdies: Weltprozess!! Es handelt sich doch nur um die Lumperei der menschlichen Erdflöhe!
Hartmann sagt p. 637. “So wenig es sich mit dem Begriff der Entwicklung vertragen würde, dem Weltprozess eine unendliche Dauer in der Vergangenheit zuzuschreiben, weil dann jede irgend denkbare Entwicklung bereits durchlaufen sein müsste, was doch nicht der Fall ist (!!!), ebensowenig können wir dem Prozess eine unendliche Dauer für die Zukunft zugestehen; beides höbe den Begriff der Entwicklung zu einem Ziele auf und stellte den Weltprozess dem Wasserschöpfen der Danaïden gleich. Der vollendete Sieg des Logischen über das Unlogische muss also mit dem zeitlichen Ende des Weltprozesses, dem jüngsten Tage zusammenfallen (!!).”
Von diesem Hartmannschen “Weltprozess” flüchtet man gern zu dem demokritischen Atomengewirr und zur Darwinistischen Lehre vom Bestehen des Lebensfähigen unter den zahllosen Combinationen. Hier ist doch noch ein Platz für die grossen Individuen, sei es auch dass ein Zufall sie herausgeschleudert. Bei Hartmann ist die Willensverneinung eine Verirrung und die Bejahung des Lebens die eigentliche Pflicht. Zuletzt sollen gar die Majoritäten auf der Erde für die Vernichtung und die Rückkehr in’s Nichts abstimmen!
Dagegen unsre Lehre, dass das Bewusstsein nur durch immer höhere Illusionen gefördert und entwickelt wird. Wir stehen deshalb mit unserm “Bewusstsein” so niedrig (verglichen etwa mit den Griechen), weil unsre Illusionen niedriger und gemeiner sind, als die ihrigen. Diesen Fortschritt zur Gemeinheit bin ich nicht im Stande, einen Fortschritt zum “Mannesalter” zu nennen. Dächte man die Illusionen verschwinden, so verdunstet das Bewusstsein bis zur Pflanze. Illusionen sind übrigens nur der Ausdruck für einen unbekannten Sachverhalt. Die Menschheit zur Blasirtheit zu führen ist das Hartmannsche Ziel: dann allgemeiner Selbstmord: von der Majorität der Menschen ausgeführt! Dann kippt die Welt um und versinkt wieder ins Meer des Nichts. Aufgabe der nächsten Generationen, durch Hingabe an den Weltprozess d. h. Bejahung des Willens zum Leben die Blasirtheit einzuleiten!
Ekelhaftes Buch, eine Schande für die Zeit! Wie unendlich reiner, höher und sittlicher wirkt Schopenhauers Pessimismus! Diese Hartmannsche Philosophie ist die Fratze des Christenthums, mit ihrer absoluten Weisheit, ihrem jüngsten Tag, ihrer Erlösung usw. Die Speculation auf den Effect der monströsen Paradoxie, verbunden mit dem laissez faire, war nie toller. Die David-Straussische Gegenwart wird in den Weltprozess eingeordnet, findet ihre Stelle und wird also justificirt. Daher der Erfolg bei der Litteraten-Masse (das heisst nämlich jetzt “Erfolg” überhaupt: die vermögen es schon, das Publikum zum Kaufen aufzureizen!).