Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Die Statistik beweist dass es Gesetze in der Geschichte giebt. Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist. Ihr hättet einmal in Athen Statistik treiben sollen! Da würdet ihr den Unterschied gefühlt haben! Je niedriger und unindividueller eine Masse ist, um so strenger das statistische Gesetz. Ist die Menge feiner und edler zusammengesetzt, geht sofort das Gesetz zum Teufel. Und ganz hoch oben, bei den grossen Geistern, könnt ihr gar nicht mehr rechnen: z. B. wann haben die grossen Künstler geheirathet! Hoffnungslos ihr, die ihr da ein Gesetz suchen wollt. Also: so weit es Gesetze giebt in der Geschichte, sind sie nichts werth und ist die Geschichte d. h. das, was geschehen ist, nichts werth.
Überdies: was heisst denn hier “Gesetze”? Stehen sie irgendwie gleich einem Naturgesetz oder einem Rechtsgesetz? Es sagt doch nicht “ihr sollt,” sondern “leider war es so.” Es ist der Ausdruck eines dummen faktischen Verhältnisses, bei dem Niemand mehr nach dem Warum? fragen darf. “Hier werden jährlich c. 40 Ehen geschlossen”—Warum denn so viel und nicht 80? “Es ist nun einmal nicht anders”!— Sehr belehrend! Wir danken.
Es giebt aber eine Richtung, welche die grossen Massentriebe als das Wichtige betrachtet und alle grossen Männer nur als den Ausdruck, gleichsam das sichtbar werdende Bläschen auf der Wasserfluth betrachtet. Da soll die Masse aus sich heraus das Grosse, das Chaos aus sich heraus die Ordnung gebären. Am Ende wird natürlich der Hymnus auf die gebärende Masse angestimmt; es lebe die Geschichte!
Eine andre Richtung will alles in Betracht ziehn, was “eine historische Macht” gewesen ist und schätzt darnach “das Grosse” ab: “Gross” heisst, was historisch nachhaltig gewirkt hat. Das heisst recht Quantität und Qualität verwechseln. Wenn die plumpe Masse irgend einen Gedanken, eine Religion sich recht adäquat gefunden hat und ihn zäh vertheidigt: soll der Finder und Gründer jenes Gedankens “gross” sein! Warum doch! Das Edelste und Höchste wirkt gar nicht auf die Massen: und der historische Erfolg des Christenthums beweist glücklicherweise nichts über seinen Gründer, da es im Grunde gegen ihn beweisen würde: hier scheint aber das Ursprüngliche ganz verloren gegangen zu sein und der Name für Tendenzen der Massen und vieler ehrsüchtig-egoistischen Einzelnen geblieben zu sein.