Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
29 [51]
Eine Bändigung des unbegrenzten historischen Sinnes ist nöthig: und thatsächlich besteht eine schon, die aber nicht nöthig ist, die Bändigung durch den nüchternen uniformirten Zeitgeist, der sich überall sucht und zu finden glaubt, und die Geschichte auf sein Maass herunterschraubt. Ein solches Herunterschrauben nehme ich wahr bei Cicero (Mommsen), Seneca (Hausrath), Luther (Protestantenverein) usw. In andrer Art bändigte und streckte Hegel die Geschichte, er, der recht eigentlich der deutsche “Genius der Historie” zu nennen ist; denn er fühlte sich auf der Höhe und am Ende der Entwicklung und damit auch im Besitz aller ehemaligen Zeiten, als deren ordnender. Jeder Versuch, das Gegenwärtige als das Höchste zu begreifen, ruinirt die Gegenwart, weil er die vorbildliche Bedeutung des Geschichtlichen leugnet. Die schrecklichste Formel ist die Hartmannsche “sich dem Weltprozess hinzugeben.”
Wohin es führt, die Geschichte als einen Prozess anzusehen, zeigt E. von Hartmann p. 618 (woraus mir der ungeheure Erfolg klar wird). Die historische Ansicht verbrüdert sich hier mit dem Pessimismus: nun sehe man die Consequenzen! Die Lebensalter des Einzelnen bieten die Analogie, die gar nicht schmeichelhafte Schilderung der Gegenwart erweckt nur den Schluss, dass es noch schlimmer kommt und dass dies der nothwendige Process sei, dem man sich hinzugeben habe. Zur Analogie dient ein recht gemeines Menschenkind, dessen Mannesalter es zur “gediegenen Mittelmässigkeit” und zu einer Kunst bringt, die ihm durchschnittlich etwa das ist, “was dem Berliner Börsenmann etwa Abends die Posse ist.” Er nimmt vor allem “auf eine bedächtig in die Zukunft schauende praktisch wohnliche Einrichtung in der irdischen Heimath Bedacht.” Dabei eine Art von sauersüssem Imperativ: “Unbarmherzig und grausam ist dieses Handwerk der Zerstörung der Illusion, wie der rauhe Druck der Hand, der einen süss Träumenden zur Qual der Wirklichkeit erweckt; aber die Welt muss vorwärts; nicht erträumt werden kann das Ziel, es muss erkämpft und errungen werden, und nur durch Schmerzen geht der Weg zur Erlösung.” Nur ist unbegreiflich, wie der Process, dessen Mannesalter vorhin geschildert wurde, endlich “in eine Periode der reifen Beschaulichkeit eintritt, wo sie die ganzen wüst durchstürmten Leiden ihres vergangnen Lebenslaufes mit wehmüthiger Trauer in Eins fassend überschaut und die ganze Eitelkeit der bisherigen vermeintlichen Ziele ihres Strebens begreift.” p. 625f. Wenn aber die Menschheit als eine Art Leopardi ihr Greisenalter erleben soll, so müsste sie edler sein als sie ist und vor allem ein anderes Mannesalter haben, als Hartmann ihr ertheilt. Der Greis, der einem solchen Mannesalter entspräche, würde sehr ekelhaft sein und würde mit widriger Gier am Leben hängen, in die gemeinsten Illusionen mehr als je verstrickt.