Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Die Heerde weidet an uns vorüber: sie fühlt keine Vergangenheit, springt frisst ruht verdaut, springt wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks: so dass der Mensch sie sehend seufzen muss und sie anreden möchte, wie Giacomo Leopardi im Nachtgesang des Hirten in Asien:
Ach wie muss ich dich beneiden!
Nicht nur weil frei du scheinest
Beinah von allen Leiden,
Mühsal, Verlust, die schlimmste
Beängstigung im Augenblick vergessend —
Mehr noch, weil nie der Überdruss dich quälet!
Wir seufzen aber über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können: während es uns scheinen will, als ob das Thier glücklich sein müsse, weil es überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht. So geht es auf in der Gegenwart, wie eine Zahl in einer andern ohne Rest aufgeht, und erscheint ais das ganz und gar, was es ist, in jedem Moment, ohne alle Schauspielerei und absichtliches Verbergen. Wir dagegen leiden alle an dem dunkeln und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir erscheinen, fühlen uns ergriffen, die Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das noch ohne dieses Leiden zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft in allzu kurzer und allzu seliger Blindheit spielt, ja vielleicht nur zu spielen scheint, wir scheuen uns sein Spiel zu stören und es aus der Vergessenheit zu wecken—weil wir wissen, dass mit dem Wort “es war” das Leiden und der Kampf beginnt und das Leben als ein unendliches Imperfectum inaugurirt wird: zuletzt drückt der Tod auf diese Erkenntniss, dass das Dasein ein ewiges Imperfectum ist—als ewiges Gewesensein—, sein Siegel, indem er zwar das begehrte Vergessen bringt, aber die Gegenwart und Dasein selbst dabei unterschlägt.
Wir müssen also das Vergangne betrachten—das ist nun einmal Menschenloos: unter diesem harten Joche hart zu werden soll keinem erspart sein, und wenn einer sehr hart geworden ist, bringt er es vielleicht sogar so weit, das Menschenloos eben wegen jenes Nichtvergessenkönnens zu preisen, eben deshalb weil das Vergangne in uns nicht sterben kann und uns mit der Unruhe eines Gespenstes rastlos weiter treibt, die ganze Stufenleiter alles dessen hinauf, was die Menschen gross, erstaunlich, unsterblich göttlich nennen.