Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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In der ganzen Welt redet man nicht vom Unbewussten, weil es seinem Wesen nach ungewusst ist; nur in Berlin redet und weiss man etwas davon und erzählt uns, worauf es eigentlich abgesehn ist. Nämlich darauf, dass unsre Zeit gerade so sein muss wie sie ist, wenn die Menschheit dieses Dasein einmal satt bekommen soll: was wir von Herzen glauben—während nur E. von H es weiss.— Was David Strauss als naive Thatsächlichkeit hinnimmt, wird bei H nicht nur von hinten, ex causis efficientibus gerechtfertigt, sondern sogar von vorn, ex causa finali: von dem jüngsten Tage her lässt H das Licht über unsre Zeit strahlen, und da findet sich, dass sie sich dem Mannesalter der Menschheit nähert, jenem beglückten Zustande, wo es nur noch gediegene Mittelmässigkeit, Kunst von der Art, wie sie der Berliner Börsenmann am Abend braucht, wo die “Genies kein Bedürfniss der Zeit mehr sind, weil es hiesse, die Perlen vor die Säue werfen oder auch weil die Zeit über das Stadium, welchem Genie’s gebührten, zu einem wichtigeren hinweggeschritten ist” (p. 619). Wir wünschten, wir hätten uns verschrieben; aber ich habe nur abgeschrieben. Moral: es steht ganz und gar erbärmlich, es wird noch erbärmlicher kommen, aber es muss so stehen, es muss so kommen, “sichtbar greift der Antichrist weiter und weiter um sich” (p. 610). Aber wir sind auf dem besten Wege mit dem allem: “darum rüstig vorwärts im Weltprozess als Arbeiter im Weinberge des Herrn, denn der Prozess ist es allein, der zur Erlösung führen kann” p. 638. Errathen wir den Sinn des H, wenn wir in ihm den ironischen Farceur wittern, der ein für allemal die Vorstellung vom “Weltprozess” der Lächerlichkeit preisgeben will? In diesem Sinne haben wir selten eine lustigere Erfindung und eine philosophischere Schelmerei gelesen: aber das gesammte Litteratenthum hat nicht recht hingehört und nur seine eigene Rechtfertigung im apokalyptischen Lichte darin gefunden, so dass ihm entgangen ist, dass H geradezu die Weltprozess-Philosophie als eine Philosophie für zeitgenössisches Strolchthum geschrieben hat. Das ist der eigentliche Reiz bei allen Erfindungen H’s: der Wissende fühlt, dass er es gar nicht ernsthaft meint, ausser so weit es nöthig ist, die Unwissenden zu biederem Ernste zu verführen.