Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Alles “objectiv” nehmen, über nichts zürnen, nichts lieben, alles “begreifen”—das heisst jetzt “historischer Sinn.” Die Regierungen fördern einen solchen Sinn ebenso gern, als sie die Hegelei gefördert haben; denn er macht gefügig und schmiegsam. Vor allem aber ist die ganze Presse darin erzogen: man zürnt und ärgert sich nur noch “artistisch,” übrigens ist man “blasirt” und “versteht” alles: tout comprendre c’est tout pardonner: aber man “verzeiht” nicht, man justificirt alles. Selbst nicht gebunden, leugnet der historische Journalist alle Bande: er lässt sie nur im utilitarischen Sinne bestehn.
Es soll nicht mehr das Zeitalter der harmonischen Persönlichkeit sein, sondern das der “gemeinsamen Arbeit.” Das heisst doch nur: die Menschen, bevor sie fertig sind, werden in der Fabrik gebraucht. Aber seid überzeugt, in Kurzem ist die Wissenschaft ebenso ruinirt, wie die Menschen dieser Fabrikarbeit. Die “gediegene Mittelmässigkeit” wird immer mittelmässiger, der Mensch ist weiser als irgend ein Mensch in einem Punkt und in allen andern dümmer als irgend ein ehemaliger Gelehrter: in summa aber unendlich dünkelhafter. System der Kärrner, die das Genie als überflüssig dekretiren: man wird es euren Bauten ansehen, dass sie zusammengekarrt, nicht zusammengebaut sind. Dem, der ewig “Arbeitstheilung!” “In Reih und Glied” usw. im Munde hat, ist klärlich und voll zu sagen: wollt ihr die Wissenschaft möglichst schnell fördern, so werdet ihr sie auch möglichst schnell vernichten: wie auch die Henne zu Grunde geht, die ihr künstlich zum allzuschnellen Eierlegen zwingt. Gut, die Wissenschaft ist in den letzten Jahrzehnden schnell gefördert: aber seht euch die Gelehrten, die erschöpften Hennen an. Es sind wahrhaftig keine “harmonischen” Naturen mehr: nur gackern können sie mehr als je, aber die Eier sind auch kleiner als je. Daher nun auch die beliebte “Popularisirung” der Geschichte für “gemischtes Publikum.” Das wird den Gelehrten so leicht, weil sie selbst, von einem ganz kleinen Bereiche abgesehn, “sehr gemischtes Publikum” sind und dessen Bedürfnisse in sich tragen. Sie brauchen sich nur einmal bequem im Schlafrock hinzusetzen, so gelingt es ihnen, auch ihr kleines Studienbereich jenen gemischt-populären Bedürfnissen aufzuschliessen: für diesen Bequemlichkeits-Akt affichirt man den Namen “bescheidne Herablassung des Gelehrten zum Volk,” während im Grunde der Gelehrte nur zu sich, so weit er nicht Gelehrter, sondern Pöbel ist, herabstieg. Schafft erst ein Volk—das könnt ihr euch nie edel und hoch genug denken! Euer “gemischtes Publikum” kann man sich aber nicht leicht gemein genug denken!