Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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“Objectivität des Historikers” ist ein Unsinn. Man meint, es bedeute, dass ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein angeschaut werde, dass es keine Wirkung mehr thut, nämlich ein reiner intellectueller Process bleibt: wie die Landschaft für den Künstler, der sie nur darstellt. “Interesseloses Anschauen,” ein ästhetisches Phänomen, Abwesenheit aller Willensregungen. Mit “objectiv” ist also ein Zustand im Historiker gemeint, die künstlerische Beschaulichkeit: ein Aberglaube aber ist es, dass das Bild, das die Dinge in einem solchermassen gestimmten Menschen zeigen, das wahre Wesen der Dinge offenbare. Oder meint man, dass in jenem Zustande die Dinge sich förmlich abphotographiren, meint man, es sei ein rein passiver Zustand? Im Gegentheil: es ist die eigentliche Zeugungszeit des Kunstwerks, ein Compositionsmoment allerhöchster Art: der Einzelwille schläft dabei. Das Gemälde ist künstlerisch wahr, gewiss noch nicht historisch; es sind die facta nicht, sondern deren Gewebe und Zusammenhang, der hier hinzugedichtet ist und der zufällig wahr sein kann: ist er aber falsch, immer noch “objectiv.”
Objectiv Geschichte denken ist die stille Arbeit des Dramatikers: alles an einander denken, alles Vereinzelte zum Ganzen zu weben: überall mit der künstlerischen Voraussetzung, dass der Plan, der Zusammenhang darin sei: eine Voraussetzung, die gar nicht empirisch-historisch ist und aller “Objectivität,” wie man sie gewöhnlich versteht, widerstreitet. Dass der Mensch die Vergangenheit überspinnt und bändigt, ist Kunsttrieb: nicht Wahrheitstrieb. Die vollkommene Form einer solchen Geschichtsschreibung ist rein Kunstwerk: ohne einen Funken der gemeinen Wahrheit.
Ist es erlaubt, dass alles küntlerisch betrachtet werde? Für das Vergangne wünsche ich vor allem die moralische Abschätzung. Also eine bedenkliche Verwechslung des Künstlerischen und des Moralischen: wodurch das Moralische abgeschwächt wird.
Nun aber ist meistens jene Objectivität nur eine Phrase, weil die künstlerische Potenz fehlt. An Stelle jener künstlerischen Ruhe tritt die schauspielerische Affectation der Ruhe: der Mangel an Pathos und moralischer Kraft kleidet sich als überlegne Kälte der Betrachtung. In gemeineren Fälle tritt die Banalität, und Allerweltsweisheit, die allerdings gar nichts Aufregendes hat, an Stelle der künstlerischen Interesselosigkeit. Alles Nichtaufregende wird gesucht —
Wo nun gerade das Höchste und Seltenste behandelt wird, da ist die gemeine und flache Motivation empörend, wenn sie aus der Eitelkeit des Historikers herstammt. (Swift: “jeder Mann hat gerade soviel Eitelkeit, als es ihm am Verstande mangelt.”)
Soll der Richter kühl sein? Nein: er soll nicht parteiisch sein, nicht Nutzen und Schaden für sich im Auge haben. Vor allem muss er wirklich über den Parteien stehen. Ich sehe nicht ein, weshalb ein Spätgeborner schon deshalb Richter aller früher Gebornen sein solle. Die meisten Historiker stehen unter ihren Objecten!
Man nimmt jetzt an: der, den ein Moment der Vergangenheit gar nichts angeht, sei berufen ihn darzustellen: Philologen und Griechen verhalten sich meistens so zu einander: sie gehen sich nichts an. Das nennt man auch “Objectivität”: selbst zum Photographiren gehört, ausser Object und Platte, das Licht: doch meint man, es genüge Object und Platte. An strahlendem Sonnenlicht fehlt es: im besten Falle glaubt man, dass das Oellicht der Studirstube genüge.
Ganz unbesonnene Menschen glauben überhaupt dass sie und ihre Zeit, in allen Popularansichten, Recht habe: wie jede Religion es von sich glaubt. Sie nennen “Objectivität” das Messen vergangner Meinungen an den Allerweltsmeinungen, in denen sie den Canon aller Wahrheiten suchen. Übersetzung der Vergangenheit in die Trivialität der Gegenwart ist ihre Arbeit. Feindselig sind sie gegen jede Geschichtsschreibung, die diese Popularmeinungen nicht für kanonisch hält: das soll “subjectiv” sein!
Nur aus der höchsten Kraft der Gegenwart dürft ihr das Vergangne deuten: nur in der höchsten Anspannung werdet ihr errathen, was in dem Vergangnen wissenswürdig ist. Gleiches durch Gleiches! Sonst seid ihr verloren, sonst zieht ihr das Vergangne zu euch nieder. Glaubt einer Geschichtsschreibung nicht, wenn sie nicht in den Händen der seltensten Geister ist: ihr werdet es immer merken, welcher Qualität ihr Geist ist, wenn einmal ein allgemeiner Satz ausgesprochen wird. Es kann Keiner zugleich ein grosser Historiker und ein Flach- oder Duselkopf sein. Verwechselt mir aber die Arbeiter nicht: z. B. les historiens de Ms. Thiers wie man in Frankreich naiver sagt. Ein grosser Gelehrter und zugleich ein Flachkopf—das ist möglich!
Also: Geschichte bedarf der Thätige, Geschichte schreibt der Erfahrne! Wer nicht Einiges grösser und höher erlebt hat als alle, wird auch nichts aus der Vergangenheit zu deuten vermögen.— Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: nur als Seher in die Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn deuten. Man erklärt jetzt die Wirkung Delphi’s besonders daraus, dass diese Priester genaue Kenner des Vergangnen waren: jetzt geziemt sich zu wissen, dass nur der, welcher die Zukunft baut, ein Recht habe, die Vergangenheit zu richten: als Seher nur ist er Historiker. Die Gegenwart ist schlecht und, nur eine Linie.