Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Es giebt zwei Arten das Vergangne zu betrachten, und wenn ich die eine die historische, die andre die unhistorische nenne, so will ich doch damit die erstere nicht gelobt, die letztere noch weniger etwa getadelt haben. Nur wolle man mit der zweiten nicht die schlecht-historische verwechseln, d. h. die erste in ihrer Entartung oder Unreife. Die unhistorische Art der Betrachtung findet in jedem Zeitmoment, jedem Erlebniss, unter jedem Himmel und jedem Volke, den Sinn des Menschenlebens überhaupt: und wie alle Sprachen die gleichen Bedürfnisse des Menschen ausdrücken, so scheint dem unhistorischen Betrachter jener allen Geschichten im Grossen und Kleinen zu Grunde liegende Ursinn von innen heraus hellseherisch erleuchtet, so dass die mannichfachen Hieroglyphen ihn nichts mehr kümmern: Bettler und Fürst, Dorf und Stadt, Griechen und Türken—alle lehren über das Dasein das Gleiche. Solche Betrachtung ist bei uns selten: wir fordern Historie, wie wir den geschichtlichen Völkern und Personen soweit den Vorzug geben, dass wir die anderen verachten. Am Ganges leben nach unserer Meinung schwach gewordene, in heissem Clima und Trägheit überdrüssige Menschen; wir werfen ihnen die schwache Persönlichkeit vor und erklären ihre unhistorische Betrachtungsart als Zeichen der Stagnation. Vielleicht aber ist auch unsere Forderung geschichtlicher Menschen und Völker nur ein occidentalisches Vorurtheil. Gewiss ist wenigstens, dass die Weisen aller Zeiten so unhistorisch gedacht haben und dass durch Jahrtausende von historischen Erlebnissen auch keinen Schritt breit mehr Weisheit zu erlangen ist. Die folgende Untersuchung aber wendet sich an die Unweisen und Thätigen, um zu fragen, ob nicht gerade unsre jetzige Manier Geschichte zu treiben erst recht der Ausdruck schwacher Persönlichkeiten ist: während wir doch mit dieser Manier so weit als möglich von jenem unhistorischen Betrachten und Weisewerden entfernt sind. —
Nehmen wir an, die historische Untersuchung vermöchte in Betreff von etwas Lebendigem die Wahrheit zu erreichen, z. B. in Betreff des Christenthums: dann hätte sie jedenfalls den Wahn zerstört, der um alles Lebendige und Thätige, wie eine Atmosphaere, sich breitet,—nämlich
“bei allen grossen Dingen,
“die nie ohn’ einigen Wahn gelingen.”
Man hätte durch die Beseitigung des Wahns, z. B. in Betreff der Religion, die Religiosität bei sich selbst, d. h. die productive Stimmung, zerstört und hätte ein kaltes leeres Wissen, nebst dem Gefühle der Enttäuschung in den Händen zurück behalten.