Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Die Schätzung der Geschichte und die in ihr verschwendete Kraft. Die antiquarische Manier, die das Klassische möglichst beseitigt oder als ganz individuelle Möglichkeit zu begreifen sucht. Weil viel Vernunft verwendet wird, irgend ein Stückchen Vergangenheit so zu begreifen, meint man zuletzt auch, dass Vernunft sie zu Stande gebracht. So entsteht der Aberglaube an die Vernünftigkeit der Geschichte: wobei die absolute Nothwendigkeit verstanden wird als Manifestation des Vernünftigen und Zweckmässigen. Aber die grösste historische Macht ist die Dummheit und der Teufel. Es schwächt den Muth ab, so viele Möglichkeiten zu wissen als dagewesen: wenn es nicht darauf abgesehn ist, abzuschätzen (also das Klassische und Gute aus dem Vergangnen auszuscheiden), sondern nur alles als geworden zu begreifen, so lähmt der antiquarische Sinn; denn er wittert auch im Unsinnigen Zweck und Vernunft. Die Geschichte will nur , eine grosse Behandlung; sonst macht sie Sclaven.
Nun giebt es zweitens ein Maass des erlaubten Retrospectiven und des Unerlaubten. Verboten ist die Vivisection; es soll den Kindern verboten werden zu lauern, wo Eier gelegt werden. Der Wahrheitstrieb, der den eben erlebten Moment secirt, tödtet den nächsten. Solange erkannt wird, wird nicht gelebt.
Dazu—welche Gefahren bringt der antiquarische Sinn, wenn er sich der Menge und der geringen Köpfe bemächtigt! Zuletzt zerfällt alles in Solche, welche historisch leben, und Solche, welche nur historisch tödten. Welche fatale Neubegierde, Unruhe, Belauern, Verrathen, Ablisten des eben Werdenden. Am Tag wird kein Geist citirt. Jede Zeit bedarf so viel Historie, als sie in Fleisch und Blut, durch Verdauen, umsetzen kann; so dass die stärkste und gewaltigste am meisten Geschichte vertragen wird. Wie aber, wenn schwächliche Zeiten mit ihr überfüllt werden! Welche Verdauungsbeschwerden, welche Ermüdung und Kraftlosigkeit!