Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Alles Erinnern ist Vergleichen d. h. Gleichsetzen. Jeder Begriff sagt uns das; es ist das “historische” Urphänomen. Das Leben erfordert also das Gleichsetzen des Gegenwärtigen mit dem Vergangnen; so dass immer eine gewisse Gewaltsamkeit und Entstellung mit dem Vergleichen verbunden ist. Diesen Trieb bezeichne ich als den Trieb nach dem Klassischen und Mustergültigen: die Vergangenheit dient der Gegenwart als Urbild. Entgegen steht der antiquarische Trieb, der sich bemüht das Vergangne als vergangen zu fassen und nicht zu entstellen, nicht zu idealisiren. Das Lebensbedürfniss verlangt nach dem Klassischen, das Wahrheitsbedürfniss nach dem Antiquarischen. Das Erste behandelt das Vergangne mit Kunst und künstlerischer Verklärungskraft.
Denkt man sich die andre Richtung übermächtig, so hört die Vergangenheit auf, vorbildlich und mustergültig zu wirken, weil sie aufhört, Ideal zu sein, und individuelle Wirklichkeit wie die Gegenwart selbst geworden ist. Sie dient dann nicht mehr dem Leben, sondern ist gegen dieses Leben. Man erreicht so praktisch, was man erreichte, wenn man alle Kunstkammern und Bibliotheken verbrennen würde. Die Gegenwart wird isolirt, wird zufriedner mit sich und entspricht ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen, zeigt also, was sie ist, wie gross oder gemein sie ist.— Wodurch nützt aber der Trieb zum Klassischen der Gegenwart? Er deutet an, dass, was einmal war, jedenfalls einmal möglich war und deshalb wohl auch wieder möglich sein wird ( wie die Pythagoreer meinen dass, wenn die Sterne die gleiche Stellung haben, alles wieder völlig gleich geschehen werde). An das Mögliche und Unmögliche denkt aber der Muthige und der Verwegene: ihn stärkt die Vergangenheit: z. B. wenn er hofft, dass 100 productive Menschen im Stande sind, die ganze deutsche Cultur zu gründen und findet, dass auf ähnliche Weise die Cultur der Renaissance möglich geworden ist. Am Grossen und Unmöglichen aber pflanzt sich die Menschheit fort.