Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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1. Was entspricht der Askese in Betreff der Wahrheit?— Wahrhaftigkeit, als Fundament aller Verträge und Voraussetzung des Bestehens des Menschengeschlechts, ist eine eudämonistische Forderung: dagegen tritt die Erkenntniß, daß die höchste Wohlfahrt der Menschen vielmehr in Illusionen liegt: daß also, nach dem eudämonistischen Grundsatze, Wahrheit und Lüge angewendet werden müßten—wie es auch geschieht. Begriff der verbotenen Wahrheit d. h. einer solchen, die gerade die eudämonistische Lüge verhüllt und maskirt. Gegensatz: die verbotene Lüge, dort eintretend, wo die erlaubte Wahrheit ihr Bereich hat.
2. Symbol der verbotenen Wahrheit: fiat veritas, pereat mundus.
Symbol der verbotenen Lüge: fiat mendacium! pereat mundus.
Das Erste, was durch die verbotenen Wahrheiten zu Grunde geht, ist das Individuum, das sie ausspricht. Das Letzte, was durch die verbotene Lüge zu Grunde geht, ist das Individuum. Jenes opfert sich selbst sammt der Welt, dieses opfert die Welt sich und seiner Existenz.
Casuistik: ist es erlaubt, der Wahrheit die Menschheit zu opfern?— 1) Es ist nicht wohl möglich! Wollte Gott, die Menschheit könnte an der Wahrheit sterben. 2) Wenn es möglich wäre, so wäre es ein guter Tod und eine Befreiung vom Leben. 3) Niemand kann ohne einigen Wahn so fest glauben die Wahrheit zu haben: die Skepsis wird nicht ausbleiben. Die Frage: ist es erlaubt, einem Wahne die Menschheit zu opfern, müßte verneint werden. Aber praktisch geschieht, weil Wahn eben Glauben an die Wahrheit ist.
3. Der Glaube an die Wahrheit—oder der Wahn. Ausscheidung aller eudämonistischen Bestandtheile (1. als mein eigner Glaube, 2. als gefunden von mir, 3. als Quelle guter Meinungen bei andern, des Ruhms, des Geliebtwerdens, 4. als herrisches Widerstands-Lustgefühl).
Ist, nach Abzug aller dieser Bestandtheile, das Aussprechen der Wahrheit rein als Pflicht noch möglich? Analyse des Glaubens an die Wahrheit: denn alles Wahrheit-haben ist im Grunde nur ein Glaube die Wahrheit zu haben. Das Pathos, das Pflichtgefühl geht von diesem Glauben aus, nicht von der angeblichen Wahrheit. Der Glaube setzt eine unbedingte Erkenntnißkraft voraus, bei dem Individuum, sodann die Überzeugung, daß nie ein erkennendes Wesen hierin weiterkommen werde: also die Verbindlichkeit für alle Weiten erkennender Wesen. Die Relation hebt das Pathos des Glaubens auf, etwa die Begrenzung auf das Menschliche, mit der skeptischen Annahme, daß wir vielleicht alle irren.
Wie ist aber Skepsis möglich? Sie erscheint als der eigentlich asketische Standpunkt des Denkers. Denn sie glaubt nicht an den Glauben und zerstört damit alles Segensreiche des Glaubens.
Selbst die Skepsis enthält aber in sich einen Glauben: den Glauben an die Logik. Das äußerste ist also Preisgeben der Logik, das credo quia absurdum est, Zweifel an der Vernunft und deren Verneinung. Wie dies im Gefolge der Askesis auftritt. Leben kann niemand darin, ebensowenig wie in der reinen Askesis. Womit erwiesen ist, daß der Glaube an die Logik und überhaupt der Glaube zum Leben nothwendig ist, daß also das Bereich des Denkens eudämonistisch ist. Dann tritt aber die Forderung der Lüge hervor: wenn nämlich Leben und ein Argument ist. Gegen die verbotenen Wahrheiten wendet sich die Skepsis. Dann fehlt das Fundament für die reine Wahrheit an sich, der Trieb darnach ist nur ein maskirter eudämonischer.
4. Jeder Naturvorgang ist uns im Grunde unerklärlich: wir können nur die jedesmalige Scenerie feststellen, bei der das eigentliche Drama sich begiebt. Wir sprechen dann von Kausalitäten, während wir im Grunde nur ein Nacheinander von Ereignissen sehen. Daß dies Nacheinander bei einer bestimmten Scenerie immer eintreten müsse, ist ein Glaube, der unendlich oft widerlegt wird.
5. Die Logik ist nur die Sklaverei in den Banden der Sprache. Diese aber hat ein unlogisches Element in sich, die Metapher usw. Die erste Kraft bewirkt ein Gleichsetzen des Ungleichen, ist also Wirkung der Phantasie. Darauf beruht die Existenz der Begriffe, Formen usw.
6. Formen.
7. “Naturgesetze.” Lauter Relationen zu einander und zum Menschen.
8. Der Mensch als fertig und hart gewordenes Maaß der Dinge. Sobald wir ihn uns als flüssig und schwankend denken, hört die Strenge der Naturgesetze auf. Die Empfindungsgesetze—als Kern der Naturgesetze. Mechanik der Bewegungen. Der Glaube an die Außenwelt und an die Vergangenheit, in der Naturwissenschaft.
9. Das Wahrste in dieser Welt—die Liebe Religion und die Kunst. Erstere sieht durch alle Verstellungen und Maskeraden hindurch auf den Kern, das leidende Individuum und leidet mit, letztere tröstet, als praktische Liebe, über das Leiden, indem sie von einer anderen Weltordnung erzählt, und diese verachten lehrt. Es sind die drei unlogischen Mächte, die sich als solche bekennen.
“auf der ausgedörrten Steinwüste des morschen Erdballs”