Sommer-Herbst 1873 29 [1-100]
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Jemanden über den Sinn des Erdenlebens aufzuklären—das eine Ziel; jemanden im Erdenleben festzuhalten und mit ihm zahlreiche kommende Generationen (wozu es nöthig ist, ihm die erste Betrachtung vorzuenthalten)—das ist das andre Ziel. Das erste sucht nach einem Quietiv für das Wollen, das zweite auch: das erste findet es in der nächsten Nähe und ist bald satt am Dasein, das andre ist unersättlich und schweift in jede Ferne.
Bei der zweiten Art sollte eigentlich die Vergangenheit immer nur pessimistisch betrachtet werden—um nämlich die Gegenwart relativ erträglich zu finden. Jedoch wieder nicht so pessimistisch, dass sie jene erste Lehre von der Werthlosigkeit gäbe, sondern so, dass sie zwar schlechter ist als die Gegenwart, und der Gegenwärtige mit ihr nicht tauschen mag, aber doch einen Fortschritt in sich zeigt, eben zur Gegenwart hin, damit der Glaube bekräftigt werde, dass das Glück bei einem weitern Fortschreiten zu erreichen sei. Je nachdem also eine Zeit ihr eignes Elend erkennt, um so dunkler wird sie die Vergangenheit zeichnen, je weniger, um so heller. Und die Glücklichen d. h. die Behaglichen werden alles Vergangene im fröhlichen Lichte sehn, die Gegenwart aber im fröhlichsten. Aber überhaupt wird der Trieb, rückwärts zu sehen, um so stärker sein, je grösser die Noth der Gegenwart: für die fröhlich-thätigen Zeiten ist Geschichte wenig nöthig und wird, für die Behäbigen, sogar zum Luxus.
Bei uns ist nun der historische Trieb ausserordentlich stark wie noch nie: und trotzdem ist die Überzeugung von dem Glück der Gegenwart eben so stark. Ein Widerspruch! Hier scheint das natürliche Verhältniss zu fehlen.
Man denke an Livius’ Ziel, an Tacitus, an Macciavell—Flucht vor der Gegenwart und Trost—oft genügt schon die Betrachtung, dass es einmal anders war, oft dass es ebenso war, oft dass es besser war.
Unsre Zeit dagegen capricirt sich auf die objective Geschichtsschreibung, das heisst Geschichte als Luxus: und verräth das allergrösste Behagen an sich selbst.
Geschichte treiben ist zum luxuriirenden Triebe geworden: deshalb soll man sich der Nöthe bewusst werden und damit ein naturgemässes Verhältniss von Geschichte und gegenwärtiger Noth herstellen.
Wie kommt es, dass das Nothgefühl so schwach geworden ist? Von der schwachen Persönlichkeit.
Der luxuriirende historische Trieb macht diese aber immer schwächer.